Die Geburt Europas im Mittelalter
den Landbau verfasst wurden. Rund um die Mühle und ihre Anwendungen, um das System der Nockenwelle zur Übersetzung linearer in alternierende Bewegungen war das als so finster apostrophierte Mittelalter ganz allgemein eine Zeit der Erfindungen, über die Marc Bloch erhellende Seiten geschrieben hat. Im Mittelalter war alles vom Religiösen überzogen, so allgegenwärtig, dass es kaum zu sagen ist. Die ganze Zivilisation, vor allem die materielle Kultur, war nach dem Ausdruck des großen Ökonomen Karl Polanyi «im Religiösen eingebettet». Aber in dem Maße, in dem die Werte vom Himmel auf die Erde herabgestiegen sind, wie ich es genannt habe, hat sich das Hindernis, das diese religiöse Hülle für den Fortschritt bedeuten konnte, in ein Sprungbrett verwandelt. Fortunas Spiel mit der Vorsehung wurde immer weniger dem in einer zirkulären Zeit sich drehenden Rad überlassen, sondern mehr und mehr den individuellen und kollektiven Anstrengungen der Europäer in die Hand gegeben.
In keinem Bereich hat die Kreativität der mittelalterlichen Europäer solche Fortschritte erzielt wie im Umgang mit der Zeit. Die Vergangenheit war zwar nicht Gegenstand einer richtigenGeschichtswissenschaft – das konnte sie mangels einer rationalen Untersuchung, die es erst seit dem 18. Jahrhundert gab, nicht sein –, wurde aber durch eine Pflege des Gedächtnisses zugänglich gemacht, die die Dimensionen einer Erinnerungskultur annahm. Das mittelalterliche Europa hat sich auf die Vergangenheit gestützt, um weiter und besser voranzukommen. Auch die Beherrschung des Zeitmaßes lieferte ihm Werkzeuge des Fortschritts. Der Kalender blieb zwar der Julianische, der Kalender Cäsars, aber eine Neuerung, die vom Alten Testament und dem Judentum herkam, führte einen Rhythmus ein, der bis heute Geltung hat: den Rhythmus der Woche, der Arbeitszeit und Ruhezeit in ein Verhältnis setzt, das nicht nur die religiöse Zeit der Andacht garantiert, sondern auch die beste Nutzung der menschlichen Kräfte erlaubt. Der christliche Kalender des Mittelalters hat in Europa auch die beiden großen Feste Weihnachten und Ostern eingeführt: Weihnachten, das im Gegensatz zum heidnischen Halloween, dem Fest des Todes, das Fest der Geburt und des Lebens ist, und Ostern, das die Auferstehung feiert. Hinzu kam Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes, das als Tag der Ritterweihe feudale Festbräuche aufnahm.
Im 15. Jahrhundert ließ der große italienische Architekt und Humanist Leon Battista Alberti einen seiner Helden sagen:
Gianozzo:
Es gibt drei Dinge, von denen der Mensch sagen kann, dass sie ihm wirklich gehören: Das Glück, der Leib …
Lionardo:
Und was wäre das Dritte?
Gianozzo:
Oh! Etwas äußerst Kostbares. Diese Hände und diese Augen gehören mir nicht in dem Maße.
Lionardo:
O Wunder! Was ist es?
Gianozzo:
Die Zeit, mein lieber Lionardo, die Zeit, meine Kinder.[ 17 ]
Die Zeit, die der Text rühmt, ist sicher ein ökonomischer Wert (Zeit ist Geld), aber sie ist auch ein kultureller und existenzieller Wert. Am Ende des 15. Jahrhunderts steht ein Europa der kostbaren Zeit, einer Zeit, von der die Individuen und die Gemeinschaften Besitz ergriffen haben, die ein mögliches Europa begründen.
Anhang
Karten
Zeittafel
1. Europa
276
Erste große Welle germanischer Einfälle ins Römische Reich.
313
Die Mailänder Edikte gewähren den Christen Glaubensfreiheit.
325
Auf dem Konzil von Nikaia verteidigt Konstantin der Große die christologischen Artikel des Glaubensbekenntnisses gegen den Arianismus.
330
Konstantin macht Konstantinopel zur neuen Reichshauptstadt.
379–395
Theodosius I. erhebt das Christentum zur Staatsreligion und teilt bei seinem Tod das Römische Reich in ein Westreich und ein Ostreich.
407–429
Neue Welle germanischer Einfälle
410
Einnahme und Plünderung Roms durch die Westgoten unter Alarich.
415
Die Westgoten lassen sich in Spanien nieder.
432–461
Der hl. Patricius christianisiert Irland.
um 440
Die germanischen Völker Angeln, Jüten und Sachsen siedeln sich in Britannien an; die Briten weichen auf den Kontinent zurück.
451
Der römische Feldherr Aëtius schlägt die Hunnen unter Attila auf den Katalaunischen Feldern.
476
Der Heruler Odoaker setzt Kaiser Romulus Augustus ab und sendet die Herrschaftszeichen des Weströmischen Reichs nach Konstantinopel.
488–526
Herrschaft des Ostgoten Theoderich in Ravenna.
zw. 496 u. 511
Taufe des Frankenkönigs Chlodwig.
527–565
Der byzantinische Kaiser Justinian erobert
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