Die Geburt Europas im Mittelalter
Bindemittel. Vom Mittelmeer bis zur Ostsee verbreiteten die Universitäten hinfort die gleiche Art des Wissens. Der Humanismus durchdrang die europäische Kultur von Schweden bis Sizilien, auch als er Latein zu Gunsten der Volkssprachen fallenließ. Antwerpen wurde zum Mittelpunkt einer «Welt-Wirtschaft», die, wie Fernand Braudel gezeigt hat, noch lange europäisch blieb, ehe sie mit ihren Netzen die ganze Welt umspann.
Eine Unsicherheit blieb, obwohl die Frage am Ende des 15. Jahrhunderts schärfere Konturen gewann. Wo befand sich die kontinentale Ostgrenze Europas? Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass die Einnahme Konstantinopels im Jahr 1453, auch wenn sie die Europäer und vor allem die Elitenschwer getroffen hat, nicht nur, wie es die traditionelle Geschichtsschreibung will, das katastrophale Ende einer Welt, der byzantinischen Welt, bedeutete, sondern auf lange Sicht auch die Beseitigung eines Hindernisses für die europäische Einheit. Obschon sich die orthodoxe Religion im Osten Europas bis heute gehalten hat, war sie nun nicht mehr an das doppelte Zentrum der politischen und religiösen Macht des Byzantinischen Reichs gebunden. Paradoxerweise wurde dieser mögliche Hinderungsgrund für eine künftige Einheit Europas 1453 aufgehoben.
Andererseits entwickelten die slawischen Staaten eine Territorialpolitik, durch die sich das Problem der europäischen Ostgrenze veränderte. Polen, das durch seine Bekehrung zum Christentum ein vollends europäischer Staat und durch die polnisch-litauische Dynastie der Jagiellonen mit Litauen verbunden wurde, entfaltete am Ende des 14. Jahrhunderts eine groß angelegte territoriale Expansionspolitik nach Norden (Preußen), Osten und Südosten (Volhynien und Podolien). Im 15. Jahrhundert erstreckte es sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.
Zur gleichen Zeit bildete Russland, das sich vom Joch der Mongolen befreit hatte, einen auf Moskau konzentrierten Zentralstaat aus. Iwan III. (1462–1505) setzte die Vereinigung der russischen Länder durch die Unterwerfung von Nowgorod (1478) und Twerj (1485) fort. Er organisierte einen mächtigen, durch Zentralämter verwalteten Staat mit einem soliden Rechtssystem, insbesondere seit In-Kraft-Treten des Gesetzbuchs von 1497.
Man fragt sich also, wie die Situation aus der Sicht des Historikers am Ende des 15. Jahrhunderts einzuschätzen ist, ob die Gefahren und Bedrohungen, denen Europa ausgesetzt war, den Sieg über die europäischen Errungenschaften des früheren Mittelalters oder die Verheißungen für das Europa eines langen Mittelalters, wie ich es nennen möchte, davontrugen. Unter dem Vorbehalt der Wechselfälle der Geschichte und der Bedeutung des Zufalls, auf die ich natürlich hinweise, glaube ich doch, dass sich am Ende des 15. Jahrhunderts die Chancen Europas abzeichnen. Meines Erachtens gehen die Bedrohungen weder vom Aufkommen der Nationen aus noch von den religiösen Meinungsverschiedenheiten, die ein Schisma herbeizuführen drohen.Ich hoffe, dieses Buch hat deutlich gemacht, dass die mittelalterlichen Ansätze zur Ausbildung Europas auf den Begriffen, zugleich aber auch auf den Realitäten von «Einheit» und «Nation» beruhen, obwohl der Begriff der Souveränität und seine Umsetzung seit dem 13. Jahrhundert ein Problem für die Zukunft Europas aufwerfen. Andererseits bedeutet das Ende des Monopols der katholischen Kirche weder das Ende der gemeinsamen christlichen Kultur noch das Ende einer Zivilisation, die den Laienstand zum Erben und Übermittler christlicher Werte macht, ehe er im Lauf der noch bevorstehenden, erbitterten Konflikte seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zu ihrem Gegner werden muss. Die Gefahr geht eher von den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Nationen und vom kriegerischen Charakter der Europäer aus, den Hippokrates schon in der Antike beobachtet und beschrieben hat. Zweifellos hängt sie auch von der Art und Weise ab, wie sich die im 15. Jahrhundert beginnende Expansion, die Kolonisierung und das Verhältnis zwischen Europa und seinen Besitzungen in der Welt künftig entwickeln werden.
Die tiefsten Spannungen haben sich im Mittelalter aus der Frage des Fortschritts ergeben und dazu geführt, dass sich uns ein paradoxes Bild bietet. Die herrschende Ideologie, vielleicht auch die zeitgenössischen Mentalitäten, haben das Neue, das Progressive, das nie Dagewesene als Fehler und Sünde verurteilt, und dennoch war das Mittelalter eine vorwärts drängende Periode
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