Die Geburt Europas im Mittelalter
außerordentlicher Kreativität, voller Innovationen sowohl im materiellen als auch im intellektuellen und geistlichen Bereich. Ich glaube, dass die Fähigkeit zum Fortschreiten, die sich im Lauf des Mittelalters gefestigt und im 15. Jahrhundert verstärkt hat, als eine Errungenschaft für ganz Europa, für seine Bewusstwerdung und seine Verwirklichung betont werden sollte. Der Begriff mag an dieser Stelle überraschen, ist das Fortschrittsbewusstsein, seine Aufwertung zum Ideal, doch bekanntlich ein Phänomen, das dem Ende des 17. und vor allem dem 18. Jahrhundert angehört: eine Blüte des Zeitalters der Aufklärung. Aber mir scheint, dass sich die Keime dieses Fortschritts schon im Mittelalter zeigen. Was das mittelalterliche Europa hervorgebracht und begonnen hat, sollte sich in krassem Gegensatz zu dem entwickeln, was in der islamischen Welt und vor allem inChina geschah. Im 15. Jahrhundert war China das mächtigste, reichste, in jeder Hinsicht fortgeschrittenste Land der Welt. Aber auf sich selbst beschränkt, schwanden seine Kräfte, bis es schließlich den Europäern die Vormacht in der Welt, sogar im Orient, überließ. Trotz der Errichtung des mächtigen Osmanischen Reichs und der Verbreitung des Islam in Afrika und Asien besaß auch die muslimische Welt – mit Ausnahme der Türken – nicht mehr die Dynamik, die sie im Mittelalter entfaltet hat.
Das christliche Europa dagegen war mit Ideen und Praktiken gerüstet, die ihm seit dem 15. Jahrhundert eine unvergleichliche Expansion ermöglichten und ihm erlaubt haben, diese Expansion – trotz der Rivalitäten im Inneren und der Ungerechtigkeiten, ja sogar Verbrechen im außereuropäischen Bereich – zum großen Instrument der Entwicklung eines europäischen Bewusstseins und eines gefestigten Europa zu machen. Peter Biller hat gezeigt, wie Europa im 14. Jahrhundert die Bedeutung der Bevölkerungszahl entdeckt hat und sich ihrer Rolle bei der Regelung der alltäglichen Angelegenheiten bewusst wurde.[ 15 ] Obwohl das 14. Jahrhundert wegen der Agrarkrise und der großen Pestzüge eine Periode starker Bevölkerungsverluste war, kam in Europa am Ende des Mittelalters ein neues Interesse an der Zahl der Menschen, der Art ihres Zusammenlebens und ihrer Reproduktion im Sinne eines Machtfaktors auf. Ein unlängst erschienenes Gemeinschaftswerk beschäftigt sich mit den Aspekten «Fortschritt, Reaktion und Dekadenz» im mittelalterlichen Abendland.[ 16 ] Ohne von der traditionellen Vorstellung abzurücken, die «mentalen Rahmenbedingungen» des Mittelalters seien «kaum mit dem Fortschrittsgedanken zu vereinbaren», zeigen die Autoren, dass das Christentum der Geschichte einen Sinn gegeben und den antiken Mythos von der ewigen Wiederkehr mitsamt der zyklischen Geschichtsauffassung hinfällig gemacht hat. Ich habe in diesem Zusammenhang die «progressive» Seite der Utopien des Joachim von Fiore betont, und in einem klassischen Werk,
La Théologie au XII
e
siècle
, geht Pater Chenu der Frage nach, wie das mittelalterliche Denken im 12. Jahrhundert die Geschichte neu belebt hat. Die Suche nach dem Seelenheil wurde als ein Fortschreiten verstanden, das sicher moralischer Natur, aber global Heil bringend war. Die Verachtung der Welt hat ihren Theoretikern und Nacheiferern zum Trotz nicht zum Verzichtauf den materiellen Fortschritt geführt. Die Dynamik des Mittelalters resultiert aus dem Zusammenspiel von Gegensätzlichkeiten und Spannungen, das unfreiwillig Fortschritte erzeugt. Der angeführte Sammelband hebt die Gegensatzpaare Fortschritt – Reaktion, Fortschritt – Dekadenz, Vergangenheit – Gegenwart, Antike – Neuzeit als Triebfedern dieser Dynamik hervor. Wie wir gesehen haben, haben sich die Bettelorden im 13. Jahrhundert nicht gescheut, herausfordernd als «neue», das heißt bessere Orden aufzutreten, während ihre von der monastischen Mentalität geprägten Gegner in dieser Neuheit eine Sünde und ein Übel sahen. Die mittelalterliche Zivilisation und die Menschen dieser Zeit haben die Techniken nicht verschmäht, sondern sich um Produktivität und Wachstum bemüht, angefangen beim ökonomischen Bereich. Schon im frühen Mittelalter wurden den freien Bauern Pachtverträge mit dem Zusatz «
ad meliorandum
» angeboten, das heißt mit der Verpflichtung des Nutznießers, den Bodenertrag zu verbessern.
Wir haben gesehen, wie das Interesse an landwirtschaftlichen Fortschritten dazu geführt hat, dass im 14. Jahrhundert wieder Abhandlungen über
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