Die Geburt Europas im Mittelalter
gezeigt, dass der Begriff und das Netz dieser «guten Städte» im 13. Jahrhundert auftauchten und ihre Bedeutung seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts erlosch. Der berühmteste Versuch einer Periodisierung der europäischen Geschichte wurde von Karl Marx unternommen. Nach seinem Modell erstreckt sich das mit dem Feudalsystem gleichgesetzte Mittelalter vom Ende des Römischen Reichs, das einer auf Sklavenarbeit beruhenden Produktionsweise entspricht, bis zur Industriellen Revolution. In diesem Mittelalter taucht auch das indoeuropäischeSchema der funktionalen Dreiteilung auf, das Georges Dumézil definiert hat. Im 9. Jahrhundert ist es in England zu erkennen, im 11. Jahrhundert triumphiert es mit der Formel «
oratores
,
bellatores, laboratores»
(die Betenden, die Kämpfenden, die Arbeitenden), Priester, Krieger und Bauern, die erst von den drei Ständen der Französischen Revolution abgelöst werden. Die Dreiteilung besteht auch nach der Industriellen Revolution fort, bezieht sich dann aber auf die Einteilung in einen primären, sekundären und tertiären Sektor, wie sie von Ökonomen und Soziologen definiert wird. Im Bildungswesen blieben die Universitäten bis zur Französischen Revolution praktisch unverändert, während die Elementar- und Sekundarschulen eine langsame Alphabetisierung in Gang brachten, die im 19. Jahrhundert in die allgemeine Schulpflicht mündete.
Dieses lange Mittelalter war auch die Zeit, in der sich im europäischen Rahmen eine Volkskultur entwickelt hat, die bis zu ihrer Erneuerung im 19. Jahrhundert Bestand hatte. Die durch eine Erzählung aus dem 12. Jahrhundert überlieferte Geschichte vom Engel und dem Eremiten findet sich in Voltaires
Zadig
und bei den bretonischen Erzählern des 19. Jahrhunderts wieder. Wie wir gesehen haben, war das Mittelalter eine Periode, die unter der Herrschaft des Christentums und der Kirche stand. Gewiss, eine erste große Wende erfolgte im 16. Jahrhundert mit der Spaltung des Christentums in Katholizismus und Protestantismus, und die Rolle der Religion hat sich in den verschiedenen Ländern Europas verändert. Aber man kann sagen, dass Europa hinsichtlich der Religion im Großen und Ganzen einen Weg gegangen ist, dessen Ursprünge im Mittelalter zu erkennen sind. Die europäischen Christen gaben dem Kaiser, was des Kaisers ist: eine mehr oder weniger klare Trennung zwischen der Kirche und dem Staat. Im Gegensatz zum Islam oder dem byzantinischen Christentum haben sie die Theokratie verworfen; Kinder, Frauen und Laien erfuhren eine Aufwertung, und es entstand ein Gleichgewicht zwischen Glauben und Vernunft. Aber diese Merkmale blieben bis zur Französischen Revolution weitgehend verdeckt, vor allem durch die Macht und den Einfluss der römischen Kirche, aber auch der Religion im Allgemeinen, ob evangelisch oder katholisch. Wie man sieht, stellt die Renaissance bei alledem keinenEinschnitt dar. Ich schlage meinen Lesern also vor, das Ende des 15. Jahrhunderts als einen wichtigen Haltepunkt in der mittelalterlichen Geschichte Europas zu betrachten, ohne dass darum der Titel dieses Buches seine Berechtigung verlöre.
Nachdem wir den Aufbau und die Entfaltung eines europäischen Mittelalters verfolgt haben, scheint es mir angebracht, am Ende des 15. Jahrhunderts innezuhalten, um zu sehen, wie weit wir gekommen sind und ob eine Antwort auf die Frage nach der Geburt Europas im Mittelalter möglich ist.
Ich glaube, dass es im Verhältnis zwischen Europa und der Geschichte zwei fundamentale Aspekte gibt, die uns als Leitfaden dienen können. Der erste betrifft das Territorium. Geschichte entsteht immer in einem Raum, und eine Zivilisation entwickelt und verbreitet sich immer auf einem Territorium. Das 15. Jahrhundert vollendet im Wesentlichen die Entstehung eines europäischen Raums im Mittelalter, deren Ausgangspunkt die «großen Invasionen» des frühen Mittelalters waren. Im 15. Jahrhundert gab es in diesem Raum keine Heiden mehr, und ohne die türkischen Eroberungen hätte es dort auch keine Muslime mehr gegeben. Diese Eroberungen hatten einen widersprüchlichen Doppeleffekt. Einerseits stellten sie eine Gefahr für Europa dar, aber andererseits schweißten sie Europa zusammen. Da sich die kollektive Identität im Allgemeinen ebenso auf Gegensätze zu anderen wie auf innere Gemeinsamkeiten stützt, wurde die Türkengefahr – auch wenn der europäische Widerstand nicht so stark war, wie ein Pius II. es gewünscht hätte – ein dauerhaftes
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