Die Geburt Europas im Mittelalter
abendländischen Christenheit gab es nicht nur einen abstoßenden Anderen, sondern zwei. Zuerst Byzanz: Die byzantinischen Ansprüche auf Herrschaft über die gesamte Christenheit, die lateinische wie die griechische, die Weigerung, das Primat des Bischofs von Rom anzuerkennen, die unterschiedliche liturgische Sprache – hier Griechisch, dort Latein – und die theologischen Differenzen hatten eine Entfernung zwischen den Christen beider Seiten geschaffen, die sich durch eine wichtige Entscheidung der lateinischen Kirche verschärfte. Zwischen 730 und 787 erschütterte der Bilderstreit die byzantinische Welt mit einem ersten Ausbruch von Ablehnung und Zerstörung religiöser Bilder, der auch Ikonoklasmus genannt wird. Nach dem 2. Konzil von Nikaia (787) legte Karl der Große in den
Libri Carolini
die Haltung des westlichen lateinischen Christentums in der Bilderfrage fest – eine Position der goldenen Mitte. Der Ikonoklasmus, das heißt die Zerstörung und Ausmerzung der Bilder, wurde ebenso verurteilt wie die Ikonodulie, der Götzendienst an Bildern. Während das Judentum und der Islam die Bilder ablehnten und Byzanz von Bilderstürmen heimgesucht wurde, nahm die westliche Christenheit die Bilder an und verehrte sie als Huldigung Gottes, der Jungfrau und der Heiligen, ohne sie zu Kultobjekten zu machen, denn diese Bilder waren anthropomorph. Das Antlitz der göttlichen Personen war, außer bei Darstellungen des Heiligen Geistes, ein menschliches Gesicht. Ein Schritt zum europäischen Humanismus war getan. Die europäische Kunst war auf einen fruchtbaren Weg gebracht.
Schärfer war der Konflikt mit dem Islam seit dem 7. Jahrhundert. Während Osteuropa in die byzantinische Welt eingeschlossen blieb, begrenzten der Islam und die lateinische Christenheit ihre Territorien diesseits und jenseits einer Front von Gegensätzen und oft militärischen Konflikten. Nachdem der Islam Nordafrika überschwemmt hatte, setzte er in Gestalt der arabisierten Berber zum Sturm auf das christliche Europa an und nahm zwischen 711 und 719 im raschen Siegeszug die Iberische Halbinsel ein. Die Christen konnten sich nur am nördlichen Rand halten, vor allem im Westen, in Asturien. Von Spanien aus drangen die Muslime über die Pyrenäen weiter nach Norden vor, ohne dass man genau sagen könnte, ob es dabei nur um einen Raubzug ging oder um eine Fortsetzung der Eroberung. Jedenfalls wurde dem Vormarsch der Muslime 732 in der so genannten Schlacht von Poitiers ein Ende gesetzt. Es war der letzte muslimische Einfall nördlich der Pyrenäen, auch wenn es im 9. Jahrhundert muslimische Eroberungen auf den Mittelmeerinseln, in Italien und der Provence gegeben hat.
Die europäische Geschichtsschreibung hat die Schlacht von Poitiers sehr unterschiedlich ausgelegt. Im Extremfall sahen einige Historiker sie nur als ein belangloses Scharmützel, nachdem die kraftvolle muslimische Eroberung sich bereits erschöpft und nichts mehr auszurichten hatte. Für andere war die Schlacht von Poitiers ein höchst bedeutsames Ereignis, der Triumph der Christenheit über den Islam, sowohl in der Realität als auch im Mythos. Poitiers wurde zum Symbol einer äußerst aggressiven islamfeindlichen Minderheit. Die Wahrheit liegt sicher zwischen den Extremen. Wichtig scheint mir, dass manche mittelalterlichen christlichen Chronisten die Schlacht von Poitiers offenbar als ein
europäisches Ereignis empfunden haben. Eine anonyme Chronik, die Continuatio hispana
, eine Fortsetzung der Chronik des Isidor von Sevilla, beschreibt sie als
Sieg der Europ
ä
er
, die jene zum Rückzug zwangen, die man im Abendland die Sarazenen nannte.
Darüber hinaus trugen drei Veränderungen und Innovationen zur Vereinheitlichung eines neuen Westens bei.
Die Verländlichung Europas
Das erste Phänomen, ein ökonomisches, ist die bereits erwähnte Verländlichung einer Welt, die von den Römern stark verstädtert worden war. Sie bedeutet den Zerfall der Straßen, der Werkstätten, der Umschlagplätze, der Bewässerungssysteme, der Kulturen – eine technische Regression, die besonders den Stein als Rohmaterial trifft und dem Holz wieder den Vorrang gibt. Der Rückstrom der städtischen Bevölkerung aufs Land kann die Leere nicht füllen, die durch den demographischen Abschwung entstanden ist. An Stelle der Stadt,
urbs
, wird die
villa
, das große Landgut, zur wirtschaftlichen und sozialen Basiszelle. Die Nutzungs- und Besiedlungseinheit ist der
mansus
, die Hufe, ein sehr variables, in
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