Die Geburt Europas im Mittelalter
Immerhin konnten die Langobarden zwei unabhängige Herzogtümer in Mittelitalien bewahren, Spoleto und Benevent.
Eine weniger glückliche Hand hatte Karl der Große an der Südgrenze Galliens, wo seine Gegner die Muslime waren. Mitden spanischen Gegebenheiten wenig vertraut, scheiterte er vor Saragossa und zog sich auf die Nordseite der Pyrenäen zurück. Bei einem Gefecht metzelten die Basken seine Nachhut nieder, die unter dem Befehl seines Neffen Roland stand. Diese eher nebensächliche Episode wurde zur Legende von der tragischen Niederlage im Kampf gegen die Sarazenen. Aus ihr entstand das
Rolandslied.
Karl der Große bewahrte mit Müh und Not eine Spanische Mark im späteren Katalonien sowie Septimanien im Languedoc. Was er nordwestlich der Pyrenäen zurückerobern konnte, die Gascogne, gab er seinem Sohn Ludwig zum Königreich.
Das Bündnis zwischen Franken und Papsttum. Karl der Große als Kaiser
In dieser Landschaft war das Bündnis zwischen den Franken und dem Papsttum von herausragender Bedeutung. Die Päpste haben in den fränkischen Herrschern einen weltlichen Arm gesucht und gefunden, der sie vor ihren Feinden, insbesondere den Langobarden, schützte. Die Früchte dieser Allianz ernteten zuerst die Frankenkönige – in Form der Salbung Pippins und seiner Söhne.
Im nächsten Schritt dachte das Papsttum offenbar an eine Art «europäisches» Unternehmen: die Wiederherstellung des christlichen Westens als ein um die Franken geschartes Reich. An Weihnachten des Jahres 800, bei einem Aufenthalt Karls des Großen in Rom, krönte Papst Leo III. den fränkischen Herrscher zum Kaiser.
Dieses Ereignis stärkte die aufkommende Unabhängigkeit der lateinischen Christenheit des Abendlands gegenüber dem griechisch-orthodoxen Byzantinischen Reich. Doch im Übrigen scheint mir, dass eine Verzerrung der historischen Perspektiven Karl den Großen zum Vater Europas gemacht hat. Gewiss, zu seinen Lebzeiten verliehen mehrere Texte ihm den Titel «Haupt Europas». Aber dabei handelt es sich mehr um eine Würdigung, einen Ausdruck des Imaginären, als um historische Realitäten. Unter territorialen Gesichtspunkten ist das Europa Karls des Großen beschränkt. Es umfasst weder die britischen Inseln, die ganz in den Händen der Angelsachsenund der Iren sind, noch die größtenteils von den Muslimen eroberte Iberische Halbinsel, noch Süditalien und Sizilien, ebenfalls fest im Griff der Sarazenen; auch nicht das heidnisch gebliebene Skandinavien, von dessen Boden aus die normannischen Wikinger ihre Streifzüge unternehmen, um zu plündern oder Handelsvorteile zu erzwingen. Schließlich hat das Karolingerreich östlich des Rheins kaum Zugriff. Der größte Teil der unter dem Namen «Germania» zusammengefassten Gebiete entzieht sich ihm, und vor allem die Slawen sind außerhalb seiner Reichweite und immer noch heidnisch. In Prag hat sich die Situation kaum entwickelt, seit der fränkische Kaufmann Samo, der den Sklavenmarkt beherrschte, im 7. Jahrhundert zum König der Slawen gewählt worden und ins Zentrum Böhmens vorgedrungen war.
Die Kaiserkrönung Karls des Großen war – sowohl im Sinne der Idee, die das Papsttum aufgebracht hatte, als auch in der Vorstellung Karls des Großen, der sie eher passiv akzeptierte – im Wesentlichen eine Rückkehr zur Vergangenheit, ein Bestreben, das Römische Reich wieder aufleben zu lassen, und kein Zukunftsprojekt, das sich auf das Schicksal Europas bezogen hätte. Sicher, als Karl der Große auf dem alten fränkischen Gebiet Aachen zur neuen Hauptstadt ausbauen ließ, dachte er daran, hier das «kommende Rom» entstehen zu lassen. Dabei ging es natürlich um eine Herausforderung an das «neue Rom», das heißt Konstantinopel. Aber vor allem ging es darum, zurückzublicken auf das Rom, das nicht Sitz eines europäischen Karolingerreichs war, sondern die Hauptstadt eines Papstes, der keine besondere Macht besaß. Nach Karl dem Großen trat Aachen in den Hintergund; gerade erst in den Mittelpunkt gerückt, hörte es auf, die Hauptstadt des Abendlands zu sein, auch wenn der Mythos während des ganzen Mittelalters fortlebte. Nur prachtvolle Bauwerke sind erhalten geblieben, die den Traum Karls des Großen bezeugen. Die Europaveranstaltungen, die heute in der alten Kaiserpfalz stattfinden, sind nostalgische Zeremonien. In einer Perspektive der langen Dauer, insbesondere unter einem europäischen Gesichtspunkt ist das Karolingerreich gescheitert.
Ich schließe mich dem Urteil des
Weitere Kostenlose Bücher