Die Gefährtin des Medicus
Augenblick musste sie mit sich kämpfen, um dem Kind nicht einfach eine schallende Ohrfeige zu verpassen. »Deine Mutter war immer so stolz auf deine Haare«, fügte sie gemäßigter hinzu. Régine sah sie überrascht an. Witterte sie die Lüge? Die Wahrheit war, dass Raymonda mit Alaïs so gut wie nie über die Kinder gesprochen hatte und schon gar nicht über deren Haare.
Noch ehe sie freilich eine Frage stellen konnte, die Alaïs in die Enge trieb, stürzte Soubiran herein. Er fuchtelte wild mit den Händen und stieß seine kehligen Laute aus. Immer wieder deutete er nach draußen.
Alaïs glaubte, ihn zu verstehen und sprang auf. Irgendetwas Ungewöhnliches musste sich da draußen zutragen – und da an diesem Ort fremde Menschen zu den ungewöhnlichsten Dingen gehörten, konnte es bedeuten, dass auch ein anderer auf die Idee gekommen war, in die Höhe zu flüchten.
»Ihr wartet hier!«, befahl sie den Kindern. Dann stürmte sie nach draußen.
Die fremde Gestalt, die am Fuße des Hanges zu sehen war, näherte sich langsam. Mehrmals hielt sie inne, verschnaufte, dann stieg sie wieder höher, ächzend – und humpelnd.
Wie hatte er sie nur gefunden?
Doch was in diesem Augenblick noch größer war als die Verwirrung, dass er ausgerechnet hier auftauchte, war die überraschung, dass er überhaupt noch lebte.
Es war Aurel.
»Nicht!«
Alaïs stürzte ihm entgegen, um ihn kurz vor der Hütte zurückzuhalten.
»Nicht! Komm nicht näher!«
Aurel blieb stehen, vielleicht, weil er ihrem Befehl folgte, vielleicht, weil er zu erschöpft war, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Der gesunde Fuß unter ihm schien zusammenzubrechen wie sonst nur sein Holzbein. Schwer fiel auch sein Kopf zur Erde, kaum dass er lag. Alaïs hörte ihn keuchen – das einzige Zeichen, dass er noch unter den Lebenden weilte.
Sie wusste nicht, was sie nun tun sollte. Sie hatte verhindern wollen, dass er den Kindern zu nahe kam, der Odem der Seuche mochte ihm noch anhaften, doch nun konnte sie ihn nicht einfach liegen lassen.
»Aurel …«, stammelte sie und blickte zögernd auf ihn herab.
Der Anblick von Kranken und von Toten hatte sie mit der Zeit nicht mehr erschüttern können, umso mehr tat es nun das Antlitz eines Menschen, der die Seuche überlebt hatte.
Der Tod schien auf ihm herumgekaut zu haben wie auf einemzähen Bissen, um ihn schließlich angewidert auszuspucken. Narben, tief wie Krater, rötlich oder schwärzlich verfärbt, zerrissen seine Haut auf seinem Gesicht, auf seinen Armen, gewiss auch an vielen anderen Stellen, die seine Lumpen notdürftig verbargen. Als er gefallen war, hatte sich der Holzfuß gelöst, und erstmals nach all den Jahren sah sie seinen Fußstumpf – ebenfalls ein Gebirge halb abgestorbener, halb verfaulter Haut. Gewiss – zumindest das mochte die Krankheit nicht verursacht haben. Es deuchte sie dennoch als Zeichen, dass einer, der an der Schwelle des Todes stand, besser hinübertreten solle, als zu den Lebenden zurückzukehren, um ihnen noch grauenhaftere Kunde von der Endlichkeit und der Hässlichkeit des Lebens zu bringen als die Verstorbenen.
»Wieso … wieso hast du überlebt?«, stammelte sie, als wäre dies das Schlimmste, was er ihr jemals angetan hatte. Eben noch, als sie ihn hatte kommen sehen, hatte sie ihm die Lebendigkeit geneidet, die Emy oder Raymonda doch viel mehr zustünden. Nun erwies sich die Lebendigkeit als moderig und kümmerlich.
»Es ist … es ist vorbei.«
Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, ob sie die Worte in sein Keuchen nur hineindichtete. Doch dann wälzte er sich auf den Rücken, schlug die Augen auf und wiederholte: »Es sind so viele tot. Aber die, die überlebt haben – für die ist es vorbei. Vorerst.«
Was war vorbei? Die Seuche? Oder das Leben, wie sie es kannten?
»In Saint – Marthe ist keiner mehr gestorben. Die Letzten waren Emy. Und seine Tochter.«
Alaïs schluckte schwer. Emys und meine Tochter, unsere Tochter, wollte Alaïs ihn berichtigen, aber sie brachte nichts hervor, weil Tränen ihre Stimme erstickten und weil Raymonda Emy doch so viel mehr gehört hatte als ihr. Obwohl sie nicht erwartet hatte, dass sie überleben würde, weinte sie um Raymonda, und Aurel gewährte ihr diesen Moment der Stille, aus Respekt oder aus Erschöpfung oder wegen beidem.
»Wie kommst du hierher?«, fragte sie nach einer Weile, und es klang ebenso vorwurfsvoll wie zuvor die Frage, warum er überlebt hatte. Letzteres würde sie
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