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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Suche nach frischer Nahrung und Wasser auf. So mussten sie sich eben mit ihren Reserven begnügen – wichtiger noch als das Essen war ein geeignetes Nachtlager. Sollten sie es unter einem Felsvorsprung suchen? Aber was, wenn der Berg Geröll spuckte und es auf sie fallen ließ? Sie könnten auch dort, wo die Wiesen besonders hoch standen, ein schmales Bett stampfen und hoffen, dass der gräserne Vorhang, der sie umgäbe, dem Nachtwind die Schärfe nahm.
    Noch konnte sie sich nicht entscheiden, noch ging sie Schritt für Schritt vorwärts. Die untergehende Sonne verglühte nicht, sondern wurde schließlich aschfahl wie der Mond. In dessen schwachem Schein erkannte Alaïs nicht sofort, was plötzlich vor ihnen aufragte. So frei von menschlichen Spuren war diese Einöde, dass dieses Gebilde unmöglich von kundiger Hand errichtet sein konnte. Doch ohne Zweifel hatte es ähnlichkeiten mit einem Haus.
    Kreisrund war es gebaut und äußerst niedrig. Ein großgewachsener Mensch würde darin nicht aufrecht stehen können. Und doch, die Wände schienen stabil. Die Essenz dessen, aus dem das Land hier bestand, war darin einverleibt: ein wenig von dem rauen, weißen Stein, ein wenig lehmiger Boden, dann und wann ein karges Stück Holz, wahrscheinlich – das entnahm Alaïs dem strengen Geruch – auch getrockneter Ziegenkot. Das Dach war mit Gras und Zweigen bedeckt, sicher nicht dicht genug, um Regen abzuhalten, ausreichend aber, um ihn so weit zu mildern, dass er nicht ins Gesicht des Schutzsuchenden klatschen und auch der Wind keine Ohrfeigen verteilen konnte.
    »Ein Haus!«, rief Régine begeistert. »Dort ist ein Haus! Wer hier wohl wohnt?«
    Entschlossen wollte sie darauf zulaufen, doch Alaïs packte sie rasch an der Schulter und zog sie zurück. Die Menschen, denen sie unterwegs begegnet waren, hatten sie allesamt verjagt – sie konnten froh sein, wenn nur mit Worten, nicht mit Steinen oder anderen verletzenden Gegenständen.
    »Warte! Wir wissen nicht …«
    Sie hielt inne. Das merkwürdige Haus stand nicht weit von einem felsigen Abhang, und von dort troff, zwar dünn, aber klar, eine Quelle. Nun konnte sie die Kinder nicht mehr zurückhalten, stürzte ihnen vielmehr nach, als sie mit geöffneten Mündern nach dem kühlen Nass schnappten. So gierig waren sie, dass sie sich gegenseitig fortstießen. Eigentlich stieß nur Régine Gaspard fort, der aber fing nicht einfach zu weinen an, wie Alaïs es erwartet hätte, sondern riss die Schwester heimtückisch an den Haaren.
    »Still!«, mahnte Alaïs, als lautes Gezänk ausbrach. Dann hielt sie die Hand in die Quelle, sodass sich diese teilte und beide Kinder gleichzeitig trinken konnten. Zuletzt gab sie sich selbst der Wohltat hin, ihre ausgedörrte Kehle zu benetzen.
    Als sie genug getrunken hatten, herrschte immer noch Stille. Kein Laut kam von dem sonderbaren Haus, kein Lichtstrahl.
    »Ihr wartet hier!«, befahl Alaïs. »Und wehe, ihr rührt euch vom Fleck!«
    Schwer fiel es ihr, das Unbehagen zu unterdrücken, als sie näher trat, das Gebilde umrundete, schließlich auf ein Brett stieß, das einer Türe gleich das einzige Loch in der Wand verstellte. Wer immer hier wohnte – ihre größte Angst war nicht, dass er wütend hinausstürzen und sie vertreiben würde, vielmehr, dass er reglos hier läge, der Tod denn doch seinen Einzug gehalten hatte und ihre Hoffnung Lügen strafte, in dieser Einöde wäre man vor ihm sicher.
    Dennoch griff sie entschlossen nach dem Brett und zog es fort.
    »Ist hier jemand?«, fragte sie. Das wenige verbleibende Tageslicht wurde von den Wänden und dem Dach verschluckt. Wie eine Höhle erschien ihr, wohin sie stapfte.
    »Bitte …«, stammelte sie. »Ich habe zwei Kinder bei mir. Sie brauchen …«
    Sie brach ab. Ihr war, als hätte sich im hinteren Teil des runden Baus etwas bewegt. Im gleichen Moment, da ihre Augen sich an die Konturen gewöhnten, feststellten, dass es hier keinen Herd und keine Feuerstelle gab, an den Wänden jedoch manch Strick befestigt war, an dem Werkzeug und Geschirr hingen, da sprang etwas auf sie zu. Mit einem Aufschrei fuhr sie zurück – um festzustellen, dass es nur eine Ziege, kein Ungeheuer war, die höhnisch meckerte. Doch das Tier war nicht allein. Eine gedrungene Gestalt folgte ihr, langsam und lautlos. Alaïs hielt den Atem an, als der Gestank sie traf, der von der Gestalt ausging. Es war ein Knabe, nicht viel größer als die Kinder, mit zotteligem Haar, nackten, verhärteten Beinen und übersät von

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