Die Gefährtin des Medicus
zuletzt aus dem Beutel gezogen hatte, war kein Instrument, sondern ein kugelförmiges, helles Gebilde. Es sah aus wie ein menschlicher Kopf – und doch nicht. Die Haare fehlten ihm, anstelle der Augen starrten sie dunkle Löcher an. Die Nase war verkrümmt, die Zähne lagen ohne schützende Lippen bloß.
Unwillkürlich trat Alaïs zurück und musste sich beherrschen, nicht rasch ein Kreuzzeichen zu schlagen.
Aurel starrte sie verwundert an, blickte dann zurück auf das Gebilde und wieder auf sie, als müsste er erst mühsam innewerden, dass ihr Entsetzen davon ausgelöst worden war.
»Das ist doch nur ein Demonstrationsschädel!«, stieß er leichtfertig aus. »Um den menschlichen Kopf zu verstehen, braucht es ein Modell von diesem. An der Universität verwenden die Professoren dergleichen oft. Manch einer ist aus echten Menschenknochen gemacht, dieser hier wurde aus den Knochen eines Tieres nachgeformt – und zwar so, dass man ihn öffnen kann.« Prompt tat er das. Ein knackendes Geräusch ertönte. »Der
Cranium
– der Schädel, bedeckt von Haut und häutchenartigen Muskeln. Darunter die
Dura mater,
die das Gehirn schützt. Zum Beispiel, wenn unter dem
Cranium
Eiter entsteht.«
Alaïs trat wieder näher, als er an dem sonderbaren Gebilde hantierte, doch die Scheu davor vermochte sie nicht abzulegen. Allein der Gedanke, dergleichen selbst anzufassen, ließ sie erschaudern. Noch ehe Aurel es wieder zurücklegte und weitere Schätze zutage förderte, wurden sie unterbrochen.
»Alaïs, wo bleibst du?«, hörte sie ihre Mutter rufen, noch nörgelnder und ungeduldiger als gewöhnlich. »Eben kommt dein Vater zurück! Hilf ihm mit den Fischen!«Alaïs lief dem Boot so stürmisch entgegen, dass ihr das Wasser bis ins Gesicht spritzte. Sie genoss die Abkühlung, und am liebsten hätte sie sich in die kühlen, dunklen Fluten fallen lassen. Der Vater hatte sie einst in der Bucht von Saint – Marthe zu schwimmen gelehrt. Damals hatte sie nichts anderes getragen als einen Lendenschurz, konnte sich im Wasser frei bewegen und war oft bis zum zerklüfteten Grund getaucht, um später prustend und spuckend wieder hochzukommen. Doch als sie älter geworden war, hatte die Mutter ihr verboten, sich derart leicht bekleidet zu zeigen.
Den älteren Brüdern war weiterhin vergönnt geblieben, halbnackt zu schwimmen, und manchmal war es schwer gewesen, den Neid zu bezwingen, wenn jene balgend und lachend das Wasser durchpflügten, während sie vom Ufer aus schwitzend zusehen musste.
»Vater!«, rief sie, »Vater! Du kannst dir nicht vorstellen, was heute …«
Er war aus dem Boot gesprungen und versuchte, es ans Land zu zerren. »Gleich, gleich!«, ermahnte er sie gutmütig zur Geduld. »Nun hilf mir erst …«
Sie packte das Boot an der anderen Seite und war froh, ihm beweisen zu können, dass sie fast so stark war wie die Brüder. Bis vor einigen Jahren hatten diese den Vater beim Fischfang begleitet. Doch dann hatten sie beide Saint – Marthe verlassen. Der eine – nach dem Vater Raimon genannt – arbeitete als Salzhändler. Als
Salerius
brachte er das Salz von den Minen in Camargue, Berre und Hyères auf dem Rücken von störrischen Mauleseln ins Landesinnere oder an ferne Orte wie Fréjus, Cannes und An–tibes. Er verkaufte nicht nur das grobe Salz für die Küche, sondern auch sehr feines für besonders weiche und saftige Brote. Einmal – das hatte er während seiner seltenen Besuche erzählt –war er mit seinem Handelsgut auch über das Meer bis nach Genua und Pisa gefahren. Diese Reise hatte Alaïs ihm nicht minder geneidet als einst ihren Brüdern das Schwimmen. Noch Tage später hatte sie sich ausgemalt, wie es in den fremden Städtenaussehen musste, ob das Meer so grünlich schimmerte wie hier und die Buchten so zerklüftet waren und so tief ins Land hineinreichten, dass an manchen Stellen das Wasser nicht breiter stand als das von Flüssen.
Der andere Bruder – Félipe – war Fischhändler und transportierte den Fisch, den der Vater fing, in eigens dafür gefertigten Körben zu den großen Märkten. Auch er wusste von fremden Dörfern zu erzählen und, was Alai's nicht minder interessierte, von seinen Kniffen, den Fisch möglichst lange frisch zu halten oder ihm zumindest den Anschein zu geben. Man müsse ihn nur zur rechten Zeit mit frischem Wasser übergießen, dann lasse sich nicht erkennen, ob er gerade erst gefangen worden war oder schon seit Tagen unter der heißen Sonne faulte. Griesgrämig murmelte
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