Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
hörte ich eine Scheibe zerklirren. Und beim dritten spürte ich ein warmes, stechendes Gefühl im Bauch, links neben meinem Nabel.
Henry hielt Charles’ rechten Unterarm mit beiden Händen über dem Kopf und drückte ihn hintenüber; Charles bemühte sich, die Pistole mit der Linken zu fassen, aber Henry entwand sie ihm, und sie fiel auf den Teppich. Charles duckte sich hinterher, aber Henry war zu schnell.
Ich stand immer noch da. Ich bin getroffen , dachte ich, ich bin getroffen. Ich berührte meinen Bauch mit der Hand. Blut. Ein kleines Loch, leicht versengt, in meinem weißen Hemd. Mein Paul-Smith-Hemd , dachte ich schmerzlich betrübt. Ich hatte in
San Francisco hundertvierzig Dollar dafür bezahlt. Mein Bauch fühlte sich sehr heiß an. Hitzewellen strahlten von dem Loch nach außen.
Henry hatte die Waffe. Er bog Charles den Arm auf den Rücken – Charles wehrte sich und schlug wild um sich –, drückte ihm die Pistole ins Kreuz und stieß ihn weg von der Tür.
Ich hatte immer noch nicht ganz begriffen, was passiert war. Vielleicht sollte ich mich hinsetzen , dachte ich. Steckte die Kugel noch in mir? Mußte ich sterben? Der Gedanke war lächerlich; er erschien ganz unmöglich. Mein Bauch brannte, aber ich fühlte mich seltsam ruhig. Erschossen zu werden, hatte ich immer gedacht, müßte sehr viel mehr weh tun. Behutsam ging ich rückwärts, bis ich den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, an meinen Kniekehlen fühlte. Ich setzte mich.
Obwohl Charles der eine Arm auf den Rücken gedreht wurde, versuchte er, Henry den Ellbogen des anderen in den Magen zu rammen. Henry stieß ihn taumelnd quer durch das Zimmer in einen Sessel. »Hinsetzen«, sagte er.
Charles wollte wieder aufstehen. Henry stieß ihn zurück. Er versuchte es ein zweites Mal, und Henry schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Es knallte lauter als die Schüsse vorhin. Dann trat er mit der Pistole in der Hand ans Fenster und zog die Vorhänge zu.
Ich legte die Hand auf das Loch in meinem Hemd. Als ich mich leicht nach vorn beugte, durchzuckte mich ein scharfer Schmerz. Ich erwartete, daß alle innehielten und zu mir herüberschauten. Aber niemand tat es. Ich fragte mich, ob ich sie auf mich aufmerksam machen sollte.
Charles’ Kopf war nach hinten auf die Sessellehne gerollt. Ich sah, daß er Blut am Mund hatte. Seine Augen blickten glasig.
Unbeholfen – er hielt die Pistole in der Rechten – nahm Henry die Brille ab und rieb die Gläser an seinem Hemd. Dann hakte er sie sich wieder hinter die Ohren. »Tja, Charles«, sagte er. »Jetzt hast du’s geschafft.«
Durchs offene Fenster hörte ich Aufruhr von unten – Schritte, Stimmen, eine Tür, die zugeschlagen wurde.
»Glaubst du, das hat jemand gehört?« fragte Francis bang.
»Das möchte ich annehmen«, sagte Henry.
Camilla ging zu Charles. Betrunken versuchte er sie wegzustoßen.
»Geh weg von ihm«, sagte Henry.
»Was machen wir mit diesem Fenster?« fragte Francis.
»Was machen wir mit mir ?« fragte ich.
Alle drehten sich um und schauten mich an.
»Er hat auf mich geschossen .«
Aus irgendeinem Grund rief diese Eröffnung nicht die dramatische Reaktion hervor, die ich erhofft hatte. Bevor ich Gelegenheit zu weiteren Ausführungen hatte, hörte man Schritte auf der Treppe, und dann hämmerte jemand gegen die Tür.
»Was ist los da drinnen?« Ich erkannte die Stimme des Hoteliers. »Was geht da vor?«
Francis schlug die Hände vors Gesicht. »Oh, Scheiße«, sagte er.
»Aufmachen, da drinnen.«
Charles murmelte betrunken irgend etwas und wollte den Kopf heben. Henry biß sich auf die Lippe. Er ging ans Fenster und schaute hinter dem Vorhang nach draußen.
Dann drehte er sich um. Noch immer hatte er die Pistole in der Hand. »Komm her«, sagte er zu Camilla.
Sie schaute ihn entsetzt an. Ich und Francis ebenfalls.
Er winkte sie mit der Pistole zu sich. »Komm her«, sagte er. »Schnell.«
Ich war einer Ohnmacht nahe. Was hat er vor ? dachte ich hilflos.
Camilla wich einen Schritt zurück. Ihre Augen waren rund und angstvoll. »Nein, Henry«, sagte sie. »Nicht ...«
Zu meiner Überraschung lächelte er sie an. »Glaubst du, ich würde dir etwas antun?« sagte er. »Komm her.«
Sie ging zu ihm. Er küßte sie auf die Stirn und flüsterte ihr etwas ins Ohr – bis heute frage ich mich, was.
»Ich habe einen Schlüssel«, schrie der Hotelier und hämmerte an die Tür. »Ich werde ihn benutzen.«
Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen. Idiot , dachte
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