Die geheime Reise der Mariposa
und kam sich beinahe schon vor, als könnte er tatsächlich segeln. Oskar, Eduardo und Carmen beobachteten ihn, während er José mühsam seinen nassen Kleidern entwand.
Einen Moment lang betrachtete er den Körper vor sich. Von Nordwesten zogen Wolken herauf wie in den Nächten zuvor, doch noch schien der Mond. Auf Josés Oberkörper prangten mehrere dunkle Blutergüsse. Was war auf Santiago geschehen? Wer hatte ihn – und womit – verprügelt? Wie still er dalag! Jonathan legte eine Hand auf seine Brust, spürte Josés Herzschlag und atmete auf. Eine Weile ließ er die Hand dort liegen. Es tat gut, das Leben zu fühlen, das warme Leben eines anderen Menschen in der weiten, stillen Nacht. Beinahe fror Jonathan nicht mehr. Aber auf Josés Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet und er zitterte im Schlaf. Jonathan beeilte sich, ihm die trockenen Kleider überzuziehen. Dann schleifte er ihn die Stufen hinunter, bettete ihn auf eine der Bänke und breitete die Wolldecke über ihn. Es war ein Wunder, dass er von all dem Geziehe und Gezerre nicht aufwachte.
Jonathan hängte Josés nasse Kleider über den Tisch und beschwerte sie zur Sicherheit mit dem schläfrigen Oskar. Der Flamingo Eduardo leistete ihm bereitwillig Gesellschaft und Carmen kringelte sich zum Schlafen in Josés Armbeuge zusammen. Jonathan kehrte allein zurück an Deck, unter dem Arm das Bündel alter Kleider. Sie rochen nach Fäulnis und Tabak.
»Die Kleider eines Toten«, flüsterte er.
Aber es waren trockene Kleider. Der Saum des Hemds fehlte, er hatte sich in Oskars Verband verwandelt. Jonathan schlug die Ärmel und die Hosenbeine mehrfach um und fand einen Strick, den er als Gürtel benutzte.
Als er das Steuer wieder losmachte und sich umsah, sah er hinter der Mariposa plötzlich ein anderes Schiff. Es war weit weg, zu weit, um Genaues erkennen zu können. Aber es kam Jonathan vor, als wäre dies ein kleineres Schiff, kleiner als die Roosevelt. Das Mondlicht wich, der Himmel verdunkelte sich und er fand das Schiff nicht wieder. Hatte er sich getäuscht? War es am Ende gar kein Schiff gewesen, sondern nur die weiße Gischt auf den Wellen? Die weiße Gischt, dachte Jonathan. Überall war jetzt weiße Gischt.
Der Wind hatte zugenommen. Die Wolken bedeckten den Himmel als dichte Wand. Sekunden später fielen erste Regentropfen. Die Mariposa legte sich schräg und Jonathan vergaß jeden Gedanken an das andere Schiff.
»José!«, rief er. »José, wach auf! Was soll ich tun? Was…?«
Das Prasseln des Regens verschluckte seine Worte beinahe. Und natürlich hörte José ihn nicht, von dort, wo er unter Deck schlief. Niemand hörte ihn. Niemand. Er war vollkommen allein.
Die Wellen, die die Mariposa durchkämmte, spuckten salzige Fontänen, und die Leereling an der windabgewandten Seite tauchte ins Wasser ein – es schwappte an Bord und leckte an Jonathans Füßen. Er kletterte auf die Luvreling. Die Segel der Mariposa waren straff und windgefüllt wie nie zuvor. Sie schoss nur so dahin – aber schoss sie noch in die richtige Richtung? Jonathan konnte den Kompass nicht mehr sehen. Das Regenwasser lief ihm in die Augen. Er klammerte sich am Steuer fest. Was tat man, wenn der Wind zu stark wurde? Hatte José etwas darüber gesagt? Er musste etwas tun. Er konnte nicht segeln. Er konnte ein Steuer halten, aber er konnte verdammt noch mal nicht segeln! Panik stieg in ihm auf, machte seine Kehle eng und ließ in seinem Kopf einen hohen Ton entstehen wie das Heulen einer sich nähernden Rakete.
Und dann wusste er es.
Er konnte nicht segeln. Er würde nicht segeln.
Die Mariposa hatte einen Motor. Er hatte ihn gesehen, er wusste, wo der Anlasser war … Es wäre ganz einfach. Aber zuerst musste er die Segel herunterbekommen, und das war nicht einfach. Er stellte das Steuer fest, obwohl er wusste, dass es der Wind diesmal nicht zuließ. Welches war das Großfall, das er lösen musste, damit das Großsegel herunterkam? Er probierte verschiedene Taue durch – und schließlich fand er das richtige. Die Spitze des Segels löste sich und rutschte ein Stück den Mast hinunter. Doch das Segel lief in einer Nut im Mast, und darin klemmte es fest, es würde nicht von selbst herunterkommen. So kletterte er auf der windzugewandten, erhobenen Luvseite die Reling entlang, über die Kajüte nach vorn, mitten im peitschenden Regen. Das Schiff lag so schräg, dass er sich mit den Füßen auf der seitlichen Kajütenwand abstützen konnte. Dann war er beim Mast, griff
Weitere Kostenlose Bücher