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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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I
    Параллельно пути, черный спутник летит.
Он утешит, спасет, он нам покой принесет.
    Янка Дягилева
    Am 31. August dieses Jahres verstarb Anatol Grigorjevič Ivanov. Am 3. September desselben Jahres stieg er aus dem Grab. Vielmehr wurde er aus diesem gezogen, wovon er jedoch keine Kenntnis hatte. Als er erwachte, war der Morgen noch fern. Er lag auf dem Rücken, seine Kleidung war nass, und gern hätte er die Augen aufgeschlagen, die Augen juckten und schmerzten, die Augäpfel waren festgekrallt an den Lidern. Die Hände waren kühl, als er sie auf die Augen legte, gerne hätte er gerufen, doch der Versuch, zu atmen schreckte ihn noch mehr, als es die schmerzenden Augen taten, er konnte den Mund ebenso wenig öffnen wie die Augen, die Lippen lagen glatt und trocken aufeinander, als er mit den Fingern vorsichtig darüberstrich, auf seinem Gesicht dagegen klebten nasse Erdklümpchen. Innen an den Lippen zog es stark, versuchte er sie zu öffnen. Konnte denn nicht ein mitleidiger Mensch kommen? Anatol lauschte, doch er hörte nur ein dumpfes Knirschen. Wie gern wäre er vor seinem eigenen Körper geflohen, doch besaß er nicht die Kraft, die eine derartige sinnlose Flucht erfordert hätte. Er drehte sich zur Seite, hoffte, mehr Luft zu bekommen, und wäre beinahe wieder in sein nasses Grab hinuntergestürzt, vor dessen dunklem Schlund er erwacht war, hätte nicht der, der bereits seit Stunden am Friedhof gesessen hatte, ihn abgehalten, wäre er nicht auf ihn zugesprungen, hätte ihn nicht am Kragen seines Anzugs gepackt, sodass Anatol die Vibration eines Knurrens am Hals fühlen konnte. Natürlich ängstigte sich Anatol in diesem Moment noch mehr, als er es zuvor getan hatte. So lag er starr, einen Augenblick lang, den er nichts tun konnte, einem Totstellreflex gehorchend, und hätte erleichtert geseufzt, wäre er fähig gewesen durchzuatmen, als das Tier begann, ihm das Gesicht abzulecken und auch die Ohren, wobei es ihm die Watte, die verhindert hatte, dass der Schall, die Geräusche der Stadt hinter den Gittern des Friedhofs zu ihm durchdrangen, aus dem linken Ohr herausleckte. Anatol hörte ein Kläffen.
    Es war der Hund, der Anatol sicher vom Friedhof führte, Anatols linke Hand ruhte auf dem Kopf des Tieres, seine Finger kraulten dankbar ohne Unterlass ein Ohr. Sein Unterleib war nahezu ertaubt, er fühlte nicht, wohin er seine Füße setzte, im Schritt juckte und biss es. Anatol hatte immer noch Schwierigkeiten, ausreichend Luft zu bekommen, und so bestimmte der Hund, als sei es Rücksicht, ein langsames Tempo. Bereits wenige Hundert Meter weiter hörte er Frauenstimmen, die riefen, sie würden ihm die Zukunft vorhersagen. Zigany, dachte Anatol, er hörte auch Münzen klingeln, wie sie diese an die Kleidung gehängt tragen, während der Hund ihn näher an die Frauen heranführte, die schon begannen, ihre Überraschung über das, was sie sahen, lautstark kundzutun und Anatol konnte sich vorstellen, wie sie ihre Arme in die Höhe warfen. Ein ganzes Rudel, dachte er, stellte aber, als er direkt vor ihnen stand, fest, es waren derer nur zwei. Nur zwei Stimmen, die er aber unterscheiden konnte. »Wiedergänger! Wiedergänger!«, rief eine, sie hatte offenbar den Anzug als einen der Leichenanzüge des Bestattungsunternehmens erkannt, und sein mit Erdklümpchen übersätes Gesicht ängstigte sie. Die, die nicht aufgeschrien hatte, nahm seine Hände, löste den Hund damit ab, ihn zu führen, und schob ihn zu einem Mäuerchen, auf das er sich ihrer Aufforderung folgend setzte. Es zeichnete sich ein unangenehmer Druck in seinem Enddarm ab, zudem ließ ihn ein Ziehen im Anus ein stumpfes Geräusch von sich geben: Es tat weh. »Hexenwerk, eine Baba Jaga hat ihn wiederkommen lassen. Rühr ihn nicht an«, sagte die, die vorher laut gerufen hatte, aber die andere griff schon seine Augenlider, »Baba Jaga gibt es nicht mehr. Geschwätz«, sagte sie, zog sein Augenlid hoch und rupfte grob erst aus dem einen, dann aus dem anderen kleine Kunststoffscheibchen mit winzigen Häkchen, die sie vor Anatols Gesicht hielt, es dauerte einige Momente, bis er die Häkchen sehen konnte, erst nur weiße leuchtende Punkte, seine Augen gewöhnten sich langsam von der Dunkelheit zuvor an das Halbdunkel. Er sah vor sich ein Goldzahnlächeln und bemerkte, dass die Frau alt war, obgleich er die Stimme für jünger gehalten hatte. Anatol Grigorjevič öffnete zum ersten Mal

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