Die geheime Reise der Mariposa
mit beiden Händen ins Segel und zog. Es ließ sich kaum bewegen. Der Wind straffte es noch immer, die Mariposa schoss noch immer durch die Wellen dahin … Jonathan kämpfte mit seinem Gleichgewicht – er würde es nicht schaffen. Er konnte es nicht schaffen. Tränen der Wut und der Angst vermischten sich auf seinem Gesicht mit dem Regen.
Und dann rutschten seine bloßen Füße auf dem glatten Deck ab. Er verlor den Halt, schlug der Länge nach hin, schlitterte zur Leeseite hinunter und hing mit beiden Händen am Mast, die Arme gestreckt, die Füße bereits unten im Wasser, während die Mariposa ihre wilde, wahnsinnige Fahrt fortsetzte, herrenlos – ein Totenschiff, ein Todesschiff.
Jonathan schloss die Augen und betete. Er betete zu dem Gott, der verloren gegangen war. Er betete: Natürlich gibt es dich nicht, und es hat dich nicht gegeben, aber hilf uns. José glaubt an dich, und er liegt unter Deck und schläft, und vielleicht wacht er davon auf, dass die Mariposa sinkt. Lass ein Wunder geschehen! Nimm den Wind weg! Tu, was du für richtig hältst, aber tu etwas !
Als er »etwas!« dachte, erhob sich über Jonathan ein ohrenbetäubendes Geknatter, und zuerst dachte er, es wäre Gewehrfeuer. Aber es konnte kein Gewehrfeuer sein, hier, mitten auf dem Pazifik, nicht wahr? Er merkte, dass die Mariposa wieder gerade lag. Sie wurde noch immer von den Wellen hin und her geworfen, doch er rutschte nicht mehr auf ihrem Deck nach unten. Er sah auf, dorthin, woher das Knattern kam. Es waren die Segel. Beide Segel schlugen jetzt wild hin und her. Jonathan spürte, dass der Wind von vorn kam. Die Mariposa hatte ihre Nase in den Wind gedreht. Er zog sich am Mast hoch, griff wieder ins Segel – und diesmal, ohne den Druck des Windes, ließ es sich herunterziehen, Stück für Stück. Die Fock, das Vorsegel, ließ sich mittels eines Seils um das Vorstagsegel wickeln, um jenes Drahtseil, das die Mastspitze mit dem Bug verband. Aber er wusste nicht, mittels welchen Seils. So drehte er das Vorstag-segel mit den Händen, bis sich die Fock ganz darumgerollt hatte. Er fand ein Bändsel, wickelte es drum herum und verknotete es, damit sie sich nicht wieder ausrollen konnte. Dann atmete er tief durch und ließ sich aufs Deck fallen. Einen Moment saß er einfach nur so da.
Und dann hörte Jonathan durch das Prasseln des Regens hindurch ein anderes Geräusch, und er merkte, dass der Wind nicht mehr von vorn kam. Das Geräusch war das des Motors. Hatte er vorhin am Anlasser gezogen?
Er sah nach hinten, und dort stand jemand am Steuer, ein Schemen zwischen Regen und Dunkelheit. José war aufgewacht. Ein Glück!
»Was muss ich mit dem Großsegel tun?«, rief Jonathan. Das Segel lag in unordentlichen Falten auf dem Baum, in die der Wind wieder hineinfuhr. Er erinnerte sich daran, dass José es beim Ankern ebenfalls mit einem Tau umwickelt hatte. Doch José schien seine Frage nicht gehört zu haben. Jonathan schnappte sich das erstbeste Tau und schlang es um Segel und Baum. Vorerst würde es halten. Seine Knie zitterten, als er an der Kajüte vorbei zurück zum Heck kletterte. Er musste auf jeden Schritt achten, um nicht danebenzutreten und noch einmal zu stürzen.
Erst als er ganz hinten war, sah er auf. Das Steuerruder stand festgehakt, wie er es verlassen hatte. José war nirgends zu sehen. War er überhaupt da gewesen? Auf einmal kam es Jonathan vor, als wäre die Person, die er am Steuer gesehen hatte, größer gewesen als José. Kein Junge: ein Mann. Ein Mann, dem die Kleider gepasst hätten, die jetzt, getränkt vom Regen, an Jonathans zu schmächtigem Körper klebten.
Ein Toter.
Was hatte José gemurmelt, halb im Traum schon? »Casaflora bewacht die Mariposa noch nach seinem Tod.« Wer war dieser Casaflora gewesen? Liebte er die Mariposa wirklich so sehr, dass er sie nicht verlassen konnte? Oder gab es etwas anderes an Bord, das er bewachte?
»Unsinn«, flüsterte Jonathan. »Fange ich etwa an, daran zu glauben, dass ein Geist hier an Bord umgeht? Die Mariposa hat ganz allein ihren Kurs geändert, es lag am Wind. Und am Anlasser des Motors muss ich selbst gezogen haben. Ich war nur durcheinander.«
Zitternd hockte er sich neben das Steuer. Jetzt gab es wirklich keine trockenen Sachen mehr an Bord. Die Nacht war lang, und die Mariposa warf sich gegen die Wogen des offenen Meeres an wie ein trotziges, winziges Kind. Jonathan kämpfte mit dem Schlaf.
Als endlich die Sonne aufzog, fanden seine müden Augen am Horizont einen
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