Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
meiner Phantasie zu flüchten. Dort, in der Prosa und in der Lyrik, habe ich stets meinen innersten Gedanken und Gefühlen hinter dem schützenden Schleier des Erdachten freien Lauf gelassen. Auf den vorliegenden Seiten möchte ich einen völlig anderen Weg einschlagen. Hier möchte ich mein Herz ausschütten – Wahrheiten enthüllen, die ich bisher nur mit wenigen, eng vertrauten Menschen besprochen habe, von denen ich manche überhaupt keiner Menschenseele entdeckt habe. Denn gegenwärtig durchlebe ich äußerst schwierige Zeiten, stehe ich vor einem Dilemma ungeheuren Ausmaßes.
Wage ich es, gegen Papas Willen zu handeln und mir den Zorn aller, die ich kenne, zuzuziehen, indem ich diesen Antrag annehme? Wichtiger noch, will ich ihn annehmen? Liebe ich diesen Mann wirklich und möchte ich seine Frau werden? Ich konnte ihn nicht einmal leiden, als wir uns kennenlernten; doch seither ist sehr viel geschehen.
Mir scheint, dass jegliche Erfahrung, die ich je machte, alles was ich je sagte und tat, und jeder Mensch, den ich je liebte, wesentlich dazu beigetragen zu haben, dass ich zu der Person wurde, die ich heute bin. Hätte der Pinsel die Leinwand ein wenig anders berührt, wäre dabei eine etwas hellere oder dunklere Farbe aufgetragen worden, dann wäre ich jetzt ein völlig anderer Mensch. Und so nehme ich nun auf der Suche nach einer Antwort Papier und Feder zur Hand. Vielleicht kann ich so begreifen, was mich bis zu diesem Augenblick geführt hat, und verstehen, was ich fühle – und was das Schicksal in seiner Güte und Weisheit für mich vorherbestimmt hat.
Doch halt! Keine Geschichte darf in der Mitte anfangen, noch viel weniger am Ende. Nein, um meiner Erzählung eine angemessene Form zu geben, muss ich weit zurückgehen – indie Zeit, in der alles anfing. Zu dem stürmischen Tag vor beinahe acht Jahren, als ein unerwarteter Besucher an der Tür des Pfarrhauses eintraf.
Der 21. April 1845 war ein düsterer, nasser kalter Tag.
Bei Tagesanbruch weckte mich ein gewaltiger Donnerschlag aus dem Schlaf. Wenige Augenblicke später zerriss das Grau des Himmels, und ein sintflutartiger Wolkenbruch ging nieder. Den ganzen Morgen lang klatschte der Regen gegen die Fensterscheiben des Pfarrhauses, prasselte auf das Dach und die Regenrinnen, ließ die gedrängt stehenden Grabmale auf dem nahe gelegenen Friedhof vor Nässe triefen und tanzte über die Steinplatten auf der kleinen Straße, floss zu kleinen Rinnsalen zusammen, die unaufhaltsam an der Kirche vorbei auf die steile Hauptstraße des Dorfes mit ihrem Kopfsteinpflaster zuströmten.
Drinnen in der Küche des Pfarrhauses war es jedoch behaglich. Der Raum war durchzogen vom Duft frisch gebackenen Brotes und der Wärme eines großzügigen Feuers. Es war ein Montag – Backtag –, und meine Schwester Emily meinte, das wäre wirklich sehr passend, denn es war auch mein Geburtstag. Ich hatte es stets vorgezogen, derlei Anlässen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu schenken, aber da ich neunundzwanzig Jahre alt wurde, bestand Emily darauf, wir sollten uns die Zeit für eine kleine Feier im trauten Familienkreis nehmen.
»Es ist für dich das letzte Jahr in einem wichtigen Jahrzehnt«, sagte Emily, während sie mitten im Raum auf dem bemehlten Tisch mit geschickten Händen einen Berg Teig knetete. Zwei Laibe waren bereits im Ofen, und eine weitere Schüssel voll Teig ging unter einem Tuch auf. Ich war mit den Vorbereitungen für eine Pastete und einen Obstkuchen schon weit fortgeschritten.»Zumindest müssten wir den Tag mit einer Torte feiern.«
»Ich sehe keinen Sinn darin«, erwiderte ich, während ich das Mehl für den Pastetenteig abmaß. »Anne und Branwell sind nicht hier, also würde es kein richtiges Fest werden.«
»Wir können doch während ihrer Abwesenheit nicht auf alles Vergnügen verzichten, Charlotte«, versicherte mir Emily ernst. »Wir müssen das Leben wertschätzen und uns daran freuen, solange wir es haben.«
Emily war zwei Jahre jünger als ich und außer Papa die größte in unserer Familie. Sie war eine komplizierte Persönlichkeit mit zwei gleich starken Seiten: Zum einen liebte sie es, melancholisch und nach innen gerichtet über den Sinn von Leben und Tod nachzugrübeln; zum anderen bereitete es ihr großes Entzücken, die mannigfaltigen Freuden der Welt zu genießen und die Schönheiten der Natur zu betrachten. Solange sie zu Hause sein konnte, von ihrem geliebten Moor umgeben, war Emily glücklich und nahm das Leben
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