Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
leicht. Im Gegensatz zu mir ließ sie sich nicht so schnell erschüttern. Sie verlor sich lieber in Gedanken oder in den Seiten eines Buchs und zog das Grübeln oder die Lektüre allen anderen Beschäftigungen vor – eine Wahl, der ich von ganzem Herzen zustimmen konnte. Emily gab nicht viel auf die Meinung der Leute, und sie interessierte sich überhaupt nicht für Mode. Obwohl man längst eng an der Taille anliegende Kleider mit weiten Röcken und Unterkleidern zu tragen pflegte, zog Emily es noch immer vor, die altmodischen, formlosen Kleider und dünnen Untergewänder anzuziehen, die sich ihr um die Beine schmiegten und ihrer mageren Figur nicht sonderlich schmeichelten. Da sie kaum je aus dem Haus ging, es sei denn, sie wollte über die Heide wandern, war das allerdings von geringer Bedeutung.
Mit ihrer schmalen Gestalt, ihrem bleichen Teint und ihrem dunklen Haar, das sie völlig achtlos unter einem spanischen Kamm zu einem Knoten zusammendrehte, erinnerte mich Emily an einen kräftigen Baumschössling: dünn und anmutig, doch unbeugsam, widerstandsfähig in ihrer Einsamkeit, unempfindlich gegen Wind und Regen. In Gegenwart von Fremden zog sich Emily völlig in sich zurück, war nichts als würdevoller Ernst und Schweigen; aber in Gesellschaft ihrer Familie kam ihre überschwängliche, empfindsame Natur zu vollem Ausdruck. Ich liebte sie so sehr wie das Leben selbst.
»Wie lange ist es her, dass wir einmal alle an deinem Geburtstag zusammen waren?«, fuhr Emily fort.
»Ich kann mich an das letzte Mal gar nicht mehr erinnern«, antwortete ich voller Bedauern.
Es war in der Tat schon viel Zeit vergangen, seit meine Geschwister und ich einmal alle an einem Ort vereint waren, mit Ausnahme der wenigen kurzen Wochen zu Weihnachten und in den Sommerferien. In den letzten fünf Jahren war unsere jüngste Schwester Anne bei der Familie Robinson in Thorp Green Hall bei York als Gouvernante angestellt. Unser Bruder Branwell, der vierzehn Monate jünger war als ich, hatte sich vor drei Jahren als Hauslehrer des ältesten Sohns dieser Familie zu Anne gesellt. In den Jahren davor war ich viel abwesend, weil ich in der Schule war, zunächst als Schülerin und dann als Lehrerin. Danach war ich selbst eine Weile als Gouvernante tätig. Darauf waren zwei Jahre in Belgien gefolgt, eine Erfahrung, die überaus prägend, aufregend und lebensverändernd war und die mir das Herz gebrochen hatte.
»Ich backe dir einen Gewürzkuchen, keine Widerrede«, verkündete Emily. »Nach dem Abendessen setzen wir uns am Kamin zusammen und erzählen einander Geschichten. Vielleicht gesellen sich auch Tabby und Papa zu uns.«
Tabby war unsere ältliche Bedienstete, eine gute, treue Seele aus Yorkshire, die seit unserer Kindheit bei uns war. Im Laufe der Jahre hatte Tabby, wenn sie gute Laune hatte, ihren Bügeltisch an den Kamin im Esszimmer gerückt und uns erlaubt, uns um sie zu scharen. Während sie die Laken und Nachthemden oder Rüschen der Nachthauben plättete, erfreute sie uns aufmerksam lauschende Kinderschar mit Geschichten von Liebe und Abenteuern aus den alten Märchen und Balladen – oder, wie ich später entdeckte, aus ihren Lieblingsromanen, wie zum Beispiel
Pamela
1 . Bei manch anderer Gelegenheit hatten Papas spannende Nacherzählungen von Gespenstergeschichten und uralten Sagen aus der Umgegend unsere Abende am Kamin verschönt.
Heute Abend war es jedoch ungewiss, ob Papa sich uns anschließen würde.
Ich schaute aus dem Küchenfenster auf das Moor hinaus. Ein Regenschauer vergoss große Tränen über den fernen Bergen, verbarg ihre Gipfel hinter den niedrig hängenden, ausgefransten Haarsträhnen einer Wolke. »Herrliches Wetter für einen Geburtstag. Zumindest passt der Tag zu meiner Stimmung: dunkel und finster, mit turbulenten Stürmen und ohne Aussicht auf Besserung.«
»Du redest ja schon wie ich«, erwiderte Emily, während sie die Zutaten für den Kuchen vermengte. »Gib die Hoffnung nicht auf. Wenn wir immer einen Tag nach dem anderen nehmen, vielleicht findet sich noch eine Lösung.«
»Wie denn?«, sagte ich mit einem Seufzer. »Papas Augenlicht wird mit jedem Tag schwächer.«
Mein Vater war aus Irland nach England gekommen und hatte es mit Beharrlichkeit und guter Schulbildung geschafft, weit über den Stand seiner armen, ungebildeten Familie aufzusteigen. Als bei der Einschreibung im St. John’s College der Universität Cambridge der Beamte wegen seines starken irischen Akzents nicht verstehen konnte,
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