Die Geheimnisse der Patricia Vanhelsing
unwahrscheinlich.
Andererseits... Wo waren all die menschlichen Ansiedlungen geblieben? Wo die Millionenstadt London geblieben?
Die Kälte ließ meine Gedanken zu Eis erstarren. Ich glaubte eher an die Wirkung von übersinnlichen Kräften, als an all die anderen Katastrophenszenarien.
"Tom, was machen wir jetzt?"
"Dort hinten ist ein Licht", sagte er. Ich bewunderte ihn dafür, in dieser Lage noch immer Ruhe bewahren zu können. Das einzige, was mich von der Hysterie abhielt war die furchtbare Kälte, die wie ein lähmendes Gift wirkte.
Ich folgte Toms ausgestreckter Hand. Sein anderer Arm umfasste meine Schulter, die dadurch die einzige warme Region meines Körpers zu sein schien. Ich zitterte und versuchte zu verhindern, dass die Zähne allzu sehr aufeinander klapperten. Die Kälte, die uns in diesem Augenblick peinigte, schien alles zu durchdringen.
Ich blinzelte und versuchte zu erkennen, worum es sich bei dem fernen Licht handelte, das Tom mir gezeigt hatte.
"Das war doch gerade noch nicht da", stellte ich fest. Ich war mir sicher.
"Was weiß ich", meinte Tom. "Jetzt ist es da. Ich glaube, es ist..." Er zögerte. Dann setzte er plötzlich hinzu: "Ein Haus!"
"Wir sollten dort nicht hingehen, Tom!" Ich weiß nicht, weshalb ich das plötzlich sagte. Aber da war auf einmal ein sehr starkes Gefühl in mir. Eine Ahnung, vielleicht. Ich war mir nicht sicher. Jedenfalls glaubte ich die Gefahr beinahe körperlich spüren zu können, die von jenem Haus - oder was auch immer es auch sonst sein mochte - ausging.
"Komm schon, Patti! Wir erfrieren hier! Eine Lungenentzündung ist das mindeste..."
Er hatte recht. Ich wusste es. Und es gab nicht ein einziges Argument, dass ich seinen Worten entgegenzusetzen hatte. Und doch blieb da dieses Unbehagen, das sich von meinem Magen aus verbreitete. Tom nahm mich bei der Hand.
Sie war eiskalt, so wie die meine.
Sei keine Närrin!, sagte ich mir insgeheim.
"Tom", flüsterte ich.
Ich sah ihn an.
Das Mondlicht spiegelte sich in seinen grüngrauen Augen, die mich auf ihre eigentümliche Weise ansahen.
Sein Lächeln war verhalten.
Nase und Ohren waren bereits rot gefroren.
"Was ist Patti?"
"Ich habe Angst."
Er wirkte nachdenklich, antwortete aber nicht.
*
Wir gingen schweigend dem Licht entgegen, das größer wurde und sich in mehrere Lichtpunkt aufteilte. Es handelte sich tatsächlich um ein Haus, wie wir bald feststellten. Die Fenster waren erleuchtet.
Es war ein verwinkeltes Gebäude, das mich unwillkürlich an ein Schloss erinnerte. Erst, als wir uns noch weiter genähert hatten, wurde erkennbar, wie groß es war. Turmartige Erker reckten sich spitz in den Nachthimmel. Das Gemäuer war grau und rissig. Moos schimmerte graugrün im Licht des Mondes. Es wucherte die Wände empor und hatte sich in den Rissen eingenistet.
Vor dem düsteren Schloss befand sich ein Teich mit dunklem, spiegelglatten Wasser. Das Schloss spiegelte sich darin. Schnee rieselte hinein. Die Flocken schwammen auf der Oberfläche.
Tom blieb plötzlich stehen.
Er schien nicht mehr auf die Kälte zu achten. Ich sah sein Gesicht, sah, wie sich plötzlich Anspannung und Verwirrung darin zeigten.
"Was ist los, Tom?"
"Dieser Ort..."
"Was ist damit?"
Er sah mich sehr ernst an.
"Ich habe das Gefühl, schon einmal hiergewesen zu sein. Vor langer Zeit..."
"In einem anderen Leben?"
"Ja, ich denke schon. Aber..." Er schüttelte den Kopf.
"Vielleicht täusche ich mich, aber dieses Gebäude sieht aus wie Delancie Castle..."
Die Art und Weise, wie er diesen Namen aussprach gefiel mir nicht.
"Warum soll das nicht möglich sein?", fragte ich und presste die blaugefrorenen Lippen aufeinander.
"Weil es Delancie Castle nicht mehr gibt. Es fiel einer Bombardierung im zweiten Weltkrieg zum Opfer und wurde danach nicht wieder aufgebaut..."
Wir umrundeten den Teich.
An was für einen bizarren Ort waren wir nur gelangt? Ein Ort, über dem die Aura unvorstellbaren Alters wie Glocke aus grauem Dunst hing.
Wir schritten die breiten Steinstufen des Portals empor. Der Treppenaufgang wirkte hochherrschaftlich. Die steinernen Handläufe endeten in grimmig dreinschauenden Löwenköpfen. An der zweiflügeligen dunklen Holztür prangte ebenfalls ein Löwe, der allerdings vergoldet war. Ein schwerer Metallring hing ihm in der Nase. Mit ihm konnte man gegen das Holz klopfen.
Tom griff nach dem Ring.
Die Schläge hallten dumpf im Inneren des Schlosses wieder. Es dauerte einen Augenblick, bis endlich
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