München Manhattan #1
HOME SWEET HOME
MÜNCHEN. SAMSTAG 6 UHR
Landeanflug. Das Flugzeug taucht aus der dichten Wolkendecke. Aus dem Kabinenfenster kann Kristin die Dörfer sehen, die Felder und die Autobahn rund um den Flughafen München Franz Josef Strauß. Alles grau in grau. Deprimierend – wie ihre Stimmung.
Eigentlich hat sie vom Start in New York bis jetzt – kurz vor der Landung – durchgeheult. Was für ein tolles Vorbild für ihre sechsjährige Tochter Elisa, die still und blass neben ihr sitzt. Müssen Mütter nicht stark sein und ihren Kindern immer das Gefühl geben, alles sei in bester Ordnung?
Aber leider ist überhaupt nichts in Ordnung. Hatte sie einen schweren Fehler begangen, als sie Hals über Kopf ihre Koffer gepackt und ihren Mann, und Vater ihrer Tochter, verlassen hatte? Wäre doch nur Elisas Klavierstunde nicht ausgefallen. Dann hätte sie gar nicht auf die Idee kommen können, an einem Mittwochnachmittag in den Zoo im Central Park zu gehen. Und wäre es nicht so ein schöner sonniger Januartag gewesen, wäre ihr dieser Spontanausflug schon gleich gar nicht in den Sinn gekommen.
Mit Elisa an der Hand war sie durch den kleinen Zoo geschlendert in Richtung Eisbären. Aus dem Augenwinkel hatte sie ein eng umschlungenes Pärchen gesehen – Frühlingsgefühle weit und breit und das im Januar!
Aber irgendetwas hatte an diesem Bild so ganz und gar nicht gestimmt. Nur schemenhaft ist ihre Erinnerung an das, was dann folgte. Das plötzliche Gefühl von Übelkeit, wie ihre Knie weich wurden, sie ihren Blick genauer auf dieses Pärchen geheftet hatte. Von scheinbar weit entfernt, hatte sie die Stimme ihrer Tochter gehört:
„Schau mal Mama, da ist doch Papa!“
Das konnte gar nicht sein – Peter war doch geschäftlich in Philadelphia! Offensichtlich war er nicht in Philadelphia. Er war hier im Zoo – 10 m von den Eisbären entfernt – in innigster Umarmung mit einer anderen Frau!
Das harte Aufsetzen des Flugzeuges auf dem Rollfeld reißt Kristin aus ihren Gedanken. „Herzlich willkommen in München!“ ertönt es aus der Bordsprechanlage. Na dann, zurück in München, wieder zuhause. Aber eigentlich ist ihr Zuhause seit sieben Jahren New York.
Das übliche Gewühl beim Aussteigen. Keiner scheint es erwarten zu können, endlich nach langen Stunden des eingepferchten Sitzens aus dieser Enge zu entfliehen. Normalerweise geht es Kristin genauso. Aber heute nicht. Was erwartet sie denn schon? Ihre Eltern – seit 36 Jahren glücklich verheiratet – na ja, mit Höhen und Tiefen. Aber verheiratet . Hat ihr Vater ihre Mutter mit einer großen, gutaussehenden Blondine betrogen – und das auch noch vor ihren – Kristins – Augen?
Nein, nicht dass sie wüsste. Ihre konservativen Eltern in ihrer gutbürgerlichen Wohngegend. Klar, gab es da auch schon Betrug und gescheiterte Ehen. Aber in ihrer Familie? Nein, ihre Familie ist clean – frei von Scheidungen und getrennten Eheleuten. Oma, Opa, Onkel, Tante – Ehen werden durch den Tod geschieden. So ist das eben und war noch nie anders. Und dass gerade sie dieses ungeschriebene Familiengesetz brechen würde, hat sie sich nie träumen lassen.
„Mama, wir müssen jetzt aussteigen.“ Na wunderbar, jetzt übernimmt ihre sechsjährige Tochter das Kommando.
Los jetzt! Reiß dich zusammen – du bist hier die Erwachsene. Raus aus dem Flugzeug, raus aus dem Berg von demütigenden Gedanken. Heulen kannst du später noch genug – aber erst, wenn Elisa im Bett ist.
Dass sie überhaupt durch den Zoll kommt, grenzt schon an ein Wunder. Mit ihren verheulten, total verquollenen Augen findet sie, sieht sie irgendwie drogenabhängig aus. Der leicht mürrische Beamte an der Passkontrolle fordert sie zwar auf, ihre dunkle Sonnenbrille abzunehmen, aber die Drogenpolizei ruft er nicht.
Endlich alle Gepäckstücke zusammen. Zugegeben, sie ist ziemlich spontan abgereist, aber das mit allen Koffern und Taschen, die sie in der Wohnung finden konnte. Acht Gepäckstücke auf zwei Kofferwagen verteilt. Die arme Elisa muss den einen Wagen an den Zollbeamten vorbeischieben. Die denken wahrscheinlich gerade, das arme Kind mit dieser durchgeknallten, drogenabhängigen Mutter …
Und da sind sie auch schon – ihre Eltern. Ihr Vater mit dem obligatorischen Lodenmantel – und ihre Mutter mit ihrer obligatorisch gut sitzenden Frisur. So etwas wie einen ‚ bad hair day ‘ hat sie bei ihrer Mutter noch nie erlebt. Immer perfekt gestylt, ihre Mutter würde nie verheult in der
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