Die Geheimnisse der Patricia Vanhelsing
hatte.
Diese Hände senkten sich und griff nach einem Buch. Die goldenen Lettern auf dem Einband erkannte ich sofort. Es handelte sich um ein Exemplar des LIBRUM HEXAVIRATUM. Erinnerst du dich an jenen Moment, als du zum ersten Mal die Seiten dieses Buches aufschlugst?, wisperte eine Stimme in mir. Es waren meine eigenen Gedanken - und doch wirkten sie so furchtbar fremd. Erinnerst du dich, wie die Zeichen auf dein Bewusstsein wirkten? Wie die Botschaft dieses Buches direkt in dein Gehirn eindrang?
Ich wischte mir mit der Hand über die Augen und versuchte diese bedrängenden Gedanken loszuwerden. Aber im Innersten wusste ich, dass mir das allenfalls für den Augenblick glücken konnte. Niemand, der einmal im LIBRUM HEXAVIRATUM gelesen hat, wird je wieder davon loskommen!, erinnerte ich mich.
Ich öffnete wieder Augen.
Wir fuhren auf ein weiteres Waldstück zu. Das Unterholz wucherte so hoch empor, dass es kaum zu durchdringen war. Die Piste führte mitten hindurch. Hier und da ragten knorrige Wurzeln aus dem Boden heraus. Regen hatte sie freigespült und jetzt wirkten sie wie die Finger übergroßer Geisterhände, die mitten in der Bewegung erstarrt waren.
Ich warf einen Blick auf die Karte.
"Wir müssen eigentlich sofort da sein", meinte ich. Als ich aufblickte, sah ich die dunkle Gestalt mitten auf der Straße. Ein Kuttenträger, dessen Kapuze so tief in das Gesicht hinuntergezogen war, dass darunter nichts als pure Finsternis zu sein schien.
Wie aus dem Nichts war der Düstere plötzlich aufgetaucht. Ich fühlte einen rasenden, stechenden Schmerz hinter meiner Schläfe. Fremde Kräfte berührten mein Bewusstsein auf höchst unangenehme Weise. Alles in mir krampfte sich zusammen. Die Gestalt hob die Hände.
Ich sah die Krallen aus den Fingerkuppen herausragen, und ein eisiger Schauder erfasste mich.
Mein Gott!, durchzuckte es mich.
Ich hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, dem Tod selbst gegenüberzustehen.
Der Wagen raste auf die Gestalt zu.
Tom trat auf die Bremse. Die Reifen quietschten. Der 190er geriet ins Schleudern und begann zu rutschen, während der düstere Kuttenträger völlig ungerührt dastand. Er rührte sich nicht einen einzigen Zentimeter.
Der Mercedes wirbelte herum und rutschte seitwärts von der Straße ab und in einen Graben hinein.
"Tom!", schrie ich.
"Wo ist er?", rief Tom. Er blickte an mir vorbei zum Seitenfenster hinaus. Ich wirbelte herum.
Von dem Kuttenträger war keine Spur mehr zu sehen.
*
Wir stiegen aus dem Wagen und erklommen dann die Böschung. Der Wagen steckte im Graben.
"Ohne Hilfe bekommen wir den da nicht heraus", meinte Tom.
"Aber ich glaube nicht, dass allzu viel kaputt ist..." Ich blickte etwas ratlos umher.
"Du hast ihn doch auch gesehen, Tom..."
"Diesen Mönch - oder was immer das auch für einer gewesen sein mag?"
"Ja."
Wir ließen beide den Blick über das Unterholz schweifen und lauschten angestrengt. Nirgends war etwas Verdächtiges zu sehen. Die Gestalt hatte sich in Luft aufgelöst.
"Das muss ein Verrückter gewesen sein", meinte Tom. "Oder ein Lebensmüder. Er schien es direkt darauf abgesehen zu haben, dass..."
"Ich habe ihn in meiner Vision gesehen", unterbrach ich ihn. "Es waren dieselben Krallenhände... Ich bin mir sicher!" Er fasste mich bei den Schultern und sah mich an. "Hast du irgendeine Ahnung, um wen es sich handelt?" Ich schüttelte den Kopf.
"Nein", murmelte ich. "Ich weiß nur, dass..." Ich stockte und sprach nicht weiter.
"Was?", hakte Tom nach.
"Diese Gestalt hat irgend etwas mit dem LIBRUM HEXAVIRATUM und dem Rat der Sechs zu tun. Da bin ich mir sicher." Ich blickte auf und meinte dann: "Wir können per Handy einen Abschleppdienst rufen, aber der wird wohl einige Zeit brauchen, bis er hier herausgefahren ist. Bis zu dem Ort, der unter dem Namen SixStones bekannt ist, sind es nur ein paar hundert Meter. Ich schlage vor, wir sehen uns ein bisschen um."
Tom zuckte die Achseln. "Nichts dagegen." Er griff in die Innentasche seiner Jacke, holte sein Handy hervor und verständigte einen Abschleppdienst in der Umgebung. Ich holte inzwischen noch meine Handtasche und die Karte aus dem Wagen. Die Karte breitete ich auf dem Heck des 190ers aus. Das rechte Hinterrad stand sogar noch auf dem Weg.
Tom trat an mich heran.
"Es kommt jemand", meinte er und blickte mir über die Schulter. "Kann aber ein bisschen dauern. Ich habe denen meine Handy-Nummer durchgegeben, damit sie mich anrufen, wenn sie hier
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