Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
von einem Jungen, der sich vor eine U-Bahn geworfen und überlebt hat. Kurz bevor der Junge, der vermutlich indischer oder pakistanischer Abstammung ist, vom Bahnsteig sprang, soll er – nach Aussage einer Augenzeugin in äußerst aufgeregtem Zustand – die Rolltreppe hinuntergelaufen sein.«
Am unteren Bildrand lief ein Schriftband mit:
… Geheimnisvoller Jugendlicher wirft sich vor U-Bahn … Hat nur durch ein Wunder überlebt, sagen die Sanitäter … Fahrer wird psychologisch betreut …
Der Junge starrte auf den winzigen Bildschirm und ließ die Wörter immer wieder Revue passieren. Geheimnisvoll … Wunder … und dann der arme Fahrer!
Inzwischen interviewte ein Reporter eine ältere Frau vor dem Eingang zum U-Bahnhof.
»Der Junge ist einfach an mir vorbeigerannt«, sagte die Frau. Sie hatte rosafarbenes Haar. »Schnell wie der Blitz war er. Allerdings hat er kurz davor mit so einem Mann gestritten. Ziemlich groß war der und recht gut angezogen. Ich habe mich noch gefragt, was ein feiner Herr wie er von einem kleinen Asiaten will. Dann haben die beiden sich angeschrien, und der Junge hat sich losgerissen. Der Herr hatte ihn nämlich am Arm gepackt. Und schon ist er über die Barriere gesprungen, und alles hat durcheinandergerufen. Und im nächsten Moment … Eine schreckliche Sache, finden Sie nicht? Ein Wunder, dass er nicht umgekommen ist. Ein wirkliches Wunder.«
Die Kamera schwenkte zur automatischen Schranke, die die Fahrkarten kontrollierte. Plötzlich änderte sich die Bildqualität. Die Farben verblassten, und die Aufnahme begann zu ruckeln.
»Diese Aufnahmen aus der Überwachungskamera belegen eindeutig, wie der geheimnisvolle Jugendliche über die Barriere springt, ohne seine Fahrkarte durch den Schlitz zu ziehen«, verkündete der Nachrichtensprecher. Der Junge beobachtete, dass er, ruckartig und in Schwarzweiß, genau das tat. Eine andere Kamera zeigte, wie er eine vollbesetzte Rolltreppe hinunterrannte und dabei erboste Pendler zur Seite rempelte. Unten angekommen, stolperte er und fiel auf die Knie. Beim Aufstehen blickte er zurück zur Rolltreppe. Das Bild blieb stehen, und die Kamera zeigte eine Nahaufnahme seines Gesichts.
Es blieb wegen der körnigen Bildqualität undeutlich. Das ist wohl mein eigenes Gesicht, dachte er. Und trotz der schlechten Qualität war eines sicher: Es zeichnete sich nichts anderes als Todesangst darin ab.
Am unteren Bildrand wurde eine Telefonnummer eingeblendet, und der Nachrichtensprecher forderte jeden, der diesen Jungen kannte, auf, sich zu melden. Aber er hörte gar nicht mehr zu. Es dröhnte in seinen Ohren, und ihm stiegen die Tränen in die Augen. Das Bild auf dem Bildschirm schien sich auszudehnen und ihm den Kopf zu füllen, jeder Pixel Teil eines Codes, den er nicht entziffern konnte. Die Zahlen der Telefonnummer rauschten in willkürlicher Reihenfolge an ihm vorbei. Kurz hatte er das Gefühl, in den Fernseher zu fallen und davon aufgesaugt zu werden.
Die körnige Aufnahme verschwand, und es wurde ins Studio zurückgeschaltet. Wieder war der glattgeföhnte, so vertraut wirkende Nachrichtensprecher zu sehen. Er hatte etwas Seltsames an sich und wirkte, als wäre er ein wenig zu groß für seine Kleider. Das Schriftband wurde nicht mehr eingeblendet, nur der Nachrichtensprecher saß an seinem Schreibtisch vor der Weltkugel, die sich hinter ihm an der Wand drehte. Er starrte in die Kamera und aus dem Fernseher hinaus auf den Jungen. Genau in seine Augen.
»Avi«, sagte der Nachrichtensprecher. »Du musst auf mich hören. Die Zeit wird knapp.«
Das Dröhnen verstummte, und der Junge konnte wieder klar sehen. Der Sprecher fixierte ihn mit Blicken, die gleichzeitig gütig, entschlossen und ängstlich waren. Der Mann hatte ihn gemeint. Ihn persönlich.
Avi.
»Das ist mein Name«, flüsterte der Junge.
Und das stimmte auch.
Irgendwo, ganz weit entfernt, brach ein Damm. Eine Flutwelle schwappte auf ihn zu und drohte, ihn zu verschlingen. Der Gedanke machte ihm große Angst. Doch das spielte keine Rolle, denn er hatte sich an etwas erinnert.
Mein Name ist Avi.
»Wer sind Sie?«, fragte er den Mann auf dem Fernsehbildschirm.
Der Nachrichtensprecher umrundete seinen Schreibtisch und trat so nah an die Kamera, dass er beinahe die Nase am Bildschirm plattdrückte. »Du musst verschwinden, Avi«, antwortete er. »Kellen ist dir auf der Spur. Er weiß, wo du bist, und er wird dich holen. Du hast nicht mehr viel Zeit. Flieh aus diesem
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