Die Geier
deinen Bruder! Wir gehen nach Hause.«
»Jetzt schon? Aber wir sind doch eben erst gekom-
men!«
»Tu, was ich dir sage, bitte!«
»Ach! Das ist aber nicht lieb von dir!«
Das Mädchen biß sich auf die Lippen, als bereute es
diesen letzten Satz. Einen Moment lang sah es seinen
Vater genau an, öffnete den Mund, ohne jedoch ein
Wort zu sagen, und rannte zu dem älteren Bruder, um
ihm zu sagen, daß der Spaziergang bereits zu Ende sei.
Während der Junge schmollte, mußte die Kleine ir-
gendwie erkannt haben, daß mit ihrem Vater etwas
nicht in Ordnung war. Brav trippelte sie auf dem
Heimweg neben ihm her. Der Schmerz hatte sich auf
die rechte Körperseite konzentriert. Der Mann war von
dem Gefühl, dem Tod ganz nahe zu sein, so sehr über-
wältigt, daß er nicht den Mut fand, seiner Frau gegen-
überzutreten. Aber vor ihr wollte er sich auch keine
Blöße geben. Vor dem Haus umarmte er seine Kinder
und ging dann zu seinem Wagen, ohne sich noch ein-
mal umzudrehen.
Nach Hause fahren, sich hinlegen, schlafen. Morgen
würde er anrufen, sich entschuldigen und erklären, was
mit ihm los war. Und sich bei seinem Hausarzt einen
Termin geben lassen.
In der Tunnelausfahrt erreichte der Schmerz seinen
Höhepunkt. Der Mann riß den Mund auf, um laut zu
schreien. Das bereits von zwei Infarkten angegriffene
Herzgewebe in seiner Brust zerriß langsam.
Der Wagen schleuderte zur Seite, streifte die Leit-
planke und kam auf die mittlere Fahrbahn zurück. Mit
schmerzverzerrtem Gesicht beugte sich der Mann über
das Lenkrad und betätigte unbeabsichtigt die Hupe.
Sein Fuß drückte das Gaspedal nieder.
Das Herz schlug unregelmäßig. Plötzlich riß ein Fäd-
chen der Mitralklappe. Der Mann wurde bewußtlos.
Auf dem abschüssigen Straßenstück gewann der Fiat
an Geschwindigkeit. Seltsamerweise reihte der Wagen
sich erneut zwischen einen Lastkraftwagen und einen
Pkw ein, ohne mit diesen zu kollidieren. Wie ein Pfeil
schoß der Wagen an den Geschwindigkeitsbegren-
zungsschildern vorbei. Der Fahrer des Lastwagens
hupte mehrmals.
David Toland wollte sich gerade vom Fenster abwen-
den, als er mit einem Mal das kleine rote Auto bemerk-
te. Er runzelte die Stirn, faltete die Hände und ließ die
Gelenke knacken. Sein durchdringender Blick folgte der
irren Fahrt des Fiat. Angesichts der nassen Fahrbahn
täte dieser Kamikazefahrer gut daran, jetzt zu brem-
sen ...
»Wetten, daß es jetzt kracht«, murmelte David.
Ein mittelmäßiger Fahrer in einem Durchschnittswagen
konnte nicht schneller als mit sechzig Stundenkilome-
tern in diese Kurve gehen. Der Bremssektor war so an-
gelegt, daß auch die Waghalsigsten, die Ungeschickte-
sten und gleichzeitig Hochmütigsten gewöhnlich mit
erheblichem Blechschaden davonkamen. Die Asse am
Steuer durften von sich behaupten, die Kurve mit hun-
dertzwanzig Stundenkilometern zu meistern, vorausge-
setzt, sie waren im Besitz erstklassiger Stoßdämpfer, ei-
nes schnell reagierenden Motors und einer ungewöhn-
lichen Geschicklichkeit. Mit seinem Cherokee war das
David Toland mehrfach schon gelungen. Der Fiat je-
doch verfügte über schlechte Stoßdämpfer, einen trägen
Motor und hatte vor allem keinen Fahrer mehr am Steu-
er.
Eine Sekunde lang wandte sich David Toland von der
roten Rakete ab, um sich nach einer möglichen Auf-
prallstelle umzusehen. Die Wahrscheinlichkeit, daß die
Leitplanke dem Zusammenstoß standhalten und den
Wagen auf die Fahrbahn zurückschleudern würde, war
gleich Null. Schließlich fiel sein Blick auf die Wagenko-
lonne, die sich unten am Fluß entlang voranschob.
»Um Himmels willen ...!«
Dieses verwirrende Labyrinth aus unzähligen Fahrbah-
nen, Auffahrten, Signalbrücken und Betonstrukturen,
diese paranoide Architektur wies einige wunde Punkte
auf. Die kreisförmig angelegte Kurve, die gefährlich
über die Schnellstraßen hinausragte, war ein solcher
Schwachpunkt, und der Fiat steuerte geradewegs dar-
auf zu. Mit voller Wucht prallte der Wagen gegen die an
dieser Stelle doppelt gesicherte Leitplanke, durchbrach
die Stahlträger und stürzte ins Leere. Der Kopf des
Mannes zerschmetterte an der Windschutzscheibe, die
Lenksäule bohrte sich ihm wie eine Lanze in den Unter-
leib.
Die Limousine zermalmte die Fahrerkabine eines Lie-
ferwagens, dessen Fahrer vergeblich versuchte, sich mit
einem Plastikfeuerzeug eine Zigarette anzuzünden. Der
Schädel des Lieferanten barst, und der
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