Die Geisel
der um seine Taille geschlungen war. Die Kamera fing auf, wie er die Finger spreizte und wieder zur Faust ballte, während er in das gleißende Kunstlicht hinaustrat, zoomte dann näher und näher heran, bis nur noch der Ausschnitt seines blauen Hemdes, an dem seine Marke befestigt war, als körniges Bild auf dem Monitor im Übertragungswagen zu sehen war. Der Vergrößerungsgrad, zusammen mit dem leichten Zittern der Kamera, ließ die Zahlen vor ihren angestrengten Augen tanzen.
»Eins, sieben, drei, vier, fünf«, las schließlich jemand laut vor.
Elias Romero wiederholte die Nummer in sein Handy und wartete, bis Iris Cruz, die in der Einsatzzentrale zurückgeblieben war, die Nummer nachgeschaut hatte.
Sie parkten auf dem Grasstreifen direkt an der linken Seite des Haupteingangs, genau wie Driver es befohlen hatte. Ein Übertragungswagen, der das Filmmaterial für die Menge der Medienvertreter lieferte, die jetzt eine Viertelmeile weiter östlich die Boundary Road, die Zufahrtsstraße zum Gefängnis, säumten. Nur der Kameramann war draußen und filmte den Mann, der in etwa siebzig Meter Entfernung auf dem Vorhof des Gefängnisses stand. Er hielt die Kamera fest gegen den Maschendrahtzaun gepresst. Über seinem Kopf war der Zaun von dicken Stacheldrahtrollen gekrönt, so weit das Auge reichte. Die Luft roch nach Staub und Stahl.
Der gefesselte Wachmann stand regungslos da. In den tiefen Schatten des Bogens über dem Eingang konnte man Bewegungen ausmachen. Er schien den Kopf zu drehen, um zu lauschen. Schien zustimmend zu nicken, bevor er auf die Knie fiel. Sein Gesicht wusste Bescheid.
»Cartwright, Wally A.« Iris Cruz' Stimme riss Elias' Aufmerksamkeit von dem schwankenden Bild des knienden Wachmanns los. »Männlich, ledig, weiß. Erst seit anderthalb Monaten im Dienst. Noch in der Probezeit.«
Sein eigentlicher Name lautete Waldo Arens Cartwright. Er war nach seinem einzigen achtbaren Onkel benannt worden, einem stahläugigen Rübenfarmer mit einem Unterkiefer wie ein Barsch, der, nachdem ihm das große Missgeschick widerfahren war, an seinem zweiten Tag in Vietnam auf eine Landmine zu treten, einen Ehrenplatz an der spärlich besetzten Ruhmesmauer der Familie Cartwright hatte, wo er jetzt bis in alle Ewigkeit an der Nordwand von Tante Bettys Esszimmer ruhte.
Da der Name Waldo Spott anzuziehen pflegte wie eine Frühlingsblume die Bienen, hatte der Namensvetter des Helden schon von klein auf dafür gesorgt, dass man ihn stets als Wally kannte. Wallys Meinung nach war das Leben schon hart genug, ohne dass man noch extra Ärger suchen musste, und deshalb hatte er auch in seinen Bewerbungsbogen ›Wally‹ eingetragen.
Vor zehn Minuten hatte Wally auf der Bank vor seinem Spind gesessen und die letzten Reste der Hühnerbrühe mit einem Stück Brot aufgestippt. Einige der anderen hatten überhaupt nichts gegessen. Die Nerven, schätzte Wally. Als Geisel genommen zu werden hatte auf manche Männer diese Wirkung. So wie Wally das sah, war eine Mahlzeit eine Mahlzeit.
Der Umkleideraum war überfüllt gewesen. Die Revolte war beim Schichtwechsel ausgebrochen, als gerade mal zwei Dutzend Officers in den Zellenblöcken patrouillierten. Alle anderen kamen oder gingen gerade. Die Jungs im Dienst waren zusammengetrieben und mit den beiden Schichten gemeinsam im Umkleideraum eingesperrt worden. Der diensthabende Sergeant war die Namensliste für beide Schichten durchgegangen und, siehe da, niemand fehlte. Diese Feststellung sandte eine Welle der Hoffnung durch die Reihen der Beamten. Vielleicht würden sie diese Geschichte alle heil überstehen. Vielleicht würden die Insassen eine Reihe von Forderungen aufstellen, und dann würde es vorbei sein, und sie könnten in ihre Leben zurückkehren. Vielleicht.
Als die Tür aufflog und ein halbes Dutzend Häftlinge, schwer bewaffnet mit allem Möglichen von Macheten bis Maschinengewehren, hereinkam, legte sich Schweigen wie ein Mantel über den Raum. Löffel verharrten mitten in der Luft und Münder standen offen, als zwei Biker Wally an den Ellbogen packten und ihn von der Bank hoben. Hätte Wally auch nur die geringste Ahnung gehabt, dass er sich demnächst zu seinem Namensvetter an Tante Bettys Wand gesellen würde, wäre er sicher nicht so ruhig mitgegangen.
»Danke, Iris«, sagte Romero. Er klappte das Handy zu. Mit einem Auge auf dem Bildschirm hatte er gerade angefangen, die Informationen für die anderen, die sich im Inneren des CNN-Übertragungswagens
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