Die Geisel
»Produzenten, die nicht liefern, suchen sich einen anderen Job.«
Leslie versicherte ihr, dass die Botschaft bei Martin Wells ankommen würde, dem Executive Producer der Sendung. Sie wollte gerade sagen, dass Martin doch bestimmt sein Bestes tat, als Melanie ihr mit einer Handbewegung, die nur Leslie als verärgert interpretieren konnte, das Wort abschnitt und weiterging. »Tommy möchte ein Generalmeeting am …«, setzte Leslie an.
»Wir brauchen kein Generalmeeting«, wehrte Melanie schnell ab und ließ ihre Absätze lauter auf den Boden klacken. »Alles, worüber wir reden müssen, können wir am Freitag durchgehen.«
Leslie machte sich Notizen auf ihrem Block. »Die Leute von Berens würden gern mit Ihnen über …«
Noch eine Handbewegung. Abweisend diesmal. »Die sollen mit Trudy reden.«
Inzwischen hatten sie das Set verlassen und gingen durch den Flur zu Melanies Garderobe. Dritte Tür links. »Heute Nachmittag …«, fing Leslie an.
»Heute Nachmittag gehe ich mit Brian an den Strand. Punkt. Keine Diskussion.« Noch eine Geste. Schneidend. »Ich habe ihn letzte Woche schon zweimal versetzt, und das wird nicht wieder passieren.«
Melanie zog die Tür zur Garderobe auf, trat in die kühle Stille und schloss die Tür hinter sich. Sie ging zu dem beleuchteten Schminktisch und begann, die dicke Make-up-Schicht abzutragen, die ihr die Maskenbildner vor jeder Aufzeichnung ins Gesicht kleisterten.
Außer Kosmetikutensilien befand sich nur noch ein einziger Gegenstand auf dem Tisch, ein gerahmtes Foto von Melanies und Brians erstem und einzigem Kind, ihrer Tochter Samantha: eine Vierjährige, deren unschuldiges Grinsen das kälteste Herz erwärmen konnte. Samanthas Torso war hinter einer Chevron-Tankstelle in Grand Rapids in Michigan aufgefunden worden, ohne Kopf und Arme. Nächsten Monat jährte es sich zum zehnten Mal. Direkt unter den Augen ihres neunzehnjährigen Babysitters entführt, auf dessen verzweifelte Schreie niemand reagiert hatte, war Samantha vier Tage verschwunden geblieben, ehe ihr geschundener Leichnam wieder aufgetaucht war. Weder die fehlenden Körperteile noch ihr Mörder waren je gefunden worden.
Nachdem die Beerdigung vorüber war, der erste Schmerz und der Schock abgeklungen waren und der endlose Strom von Anrufen zu versiegen begann, hatte der Verlust ihres einzigen Kindes Brian und Melanie auf vollkommen unterschiedliche Weise verändert. Brian zog sich in eine Hülle aus Selbsthass zurück, machte sich Vorwürfe, nicht da gewesen zu sein, als seine Tochter ihn am meisten brauchte. Er vernachlässigte seine erfolgreiche Anwaltskanzlei und entfremdete sich seinen langjährigen Freunden und seiner Familie, um stattdessen in einem dreijährigen Saufgelage zu versinken, aus dem er beinahe nicht mehr herausgefunden hätte. Erst seit ungefähr einem Jahr nahmen seine Beziehungen zu anderen Menschen allmählich wieder jene natürliche Wärme an, die sein früheres Leben geprägt hatte. Er schien die Angelegenheit in jeder Hinsicht hinter sich gelassen zu haben. Man durfte ihm nur nicht zu tief in die Augen sehen. Da das außer Melanie niemand tat, war es kein Problem.
Melanie hingegen hatte richtig aufgedreht. Sie war in eine Art kontrollierte Raserei verfallen. Fest entschlossen, dass kein Kind mehr leiden sollte, wie ihres gelitten hatte, begann die Hausfrau aus Michigan einen Feldzug zum Schutz von Kindern. Sie verlangte von den Polizeibehörden, Präventionsprogramme an den Schulen einzuführen, und von den staatlichen Gesetzgebungsorganen Gesetze, die Kinder davor schützten, dass eine Behörde auf die nächste verwies und es so dazu hatte kommen können, dass ihre Tochter am helllichten Tag in einem öffentlichen Park entführt worden war. Dass irgendein abartiger Dreckskerl ihre Tochter vier Tage lang festhalten und dann ihren verstümmelten Leichnam wie Müll hinter einer Tankstelle abwerfen konnte – eine Tragödie, die in gewissem Maße erst dadurch möglich geworden war, dass die verschiedenen Strafverfolgungsbehörden es nicht gewöhnt waren zusammenzuarbeiten.
Fast drei Jahre später, als ihre Raserei abzuflauen begann, hatte Melanie mehrmals vor dem Kongress gesprochen, war in jeder Talkshow von Larry King bis Jay Leno aufgetreten, war teilweise oder ganz für diverse Gesetzesinitiativen zum Schutz von Kindern verantwortlich, einschließlich des Amber Alarm System, und bekam aufgrund ihrer ständigen Präsenz in den Medien eine eigene Reality-TV-Sendung angeboten:
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