Die Geisel
American Manhunt. Eine Sendung, die sie in den letzten sieben Jahren als ihr persönliches Medium benutzt hatte, um ihre Schuldgefühle und ihre Wut auszutreiben.
Nach sieben erfolgreichen Jahren, immer in den Top 25, fielen die Quoten in letzter Zeit. Das war nicht überraschend. Wie eine erkleckliche Anzahl scharfsinniger Kommentare aufzeigte, hatte American Manhunt die neue Modewelle des Reality-Fernsehens ausgelöst, die sämtliche Kanäle überschwemmte. Alles, von FBI Files bis zu Survivor , verdankte seine Existenz der Pionierarbeit, die American Manhunt geleistet hatte. Die Sendung hatte nicht nur ihre eigene Konkurrenz wie Pilze aus dem Boden schießen lassen, sondern sie bestätigte auch die These, dass noch nie jemand pleitegegangen war, indem er die Aufmerksamkeitsspanne des amerikanischen Publikums unterschätzt hatte. Bis jetzt war es Melanie gelungen, das Ganze nüchtern zu beurteilen. Nicht nur waren sieben Jahre verdammt gut, gegenwärtig verhandelte sie sogar mit einer großen Produktionsgesellschaft über eine eigene Talkshow.
›Oprah mit Biss‹, hieß es.
Nachdem sie den letzten Rest TV-Make-up entfernt hatte, trug Melanie Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 45 auf, danach eine dezente Schicht transparenten Puder. Sie spannte die Lippen, um ein wenig Beach-Coral-Lipgloss aufzutragen, und war fertig. Jetzt brauchte sie nur noch in Strandsachen und Sandalen zu schlüpfen.
Melanie stand auf. Sie war schon auf halbem Weg zum Ausgang, als die Tür zu ihrer Garderobe aufflog. Patricia Goodman, die Produktionsassistentin, walzte herein. Patricia war fett und fünfzig; außerdem war sie Marty Wells' Nichte oder Cousine oder irgend so was, was für Melanie erklärte, wie jemand mit einer dermaßen nebulösen Arbeitsplatzbeschreibung noch am Set sein konnte.
Patricia schloss die Tür hinter sich und sah Melanie an. »Die Mädchen sind so weit, wann immer Sie wollen«, teilte sie gelangweilt mit.
Melanie blieb wie angewurzelt stehen, während sich eine vage Erinnerung in ihr Bewusstsein schlich. »Was für Mädchen?«
»Die fünfundzwanzig Girlsday-Mädchen.« Als Melanie weiterhin nur die Stirn runzelte, fuhr Patricia fort: »Die Mädchen von der Highschool. Sie verbringen den Nachmittag mit ihnen und zeigen ihnen die Studios. Lassen sie hinter die Kulissen schauen. Sie sind eine Heldin für die, schon vergessen?«
Da fiel es ihr wieder ein. Es hatte einen Wettbewerb gegeben. An allen Highschools der Umgebung. Zeitschriftenabonnements verkaufen oder so etwas. Die Gewinner durften herkommen und Melanie einen Nachmittag lang begleiten.
Mit raschen Schritten ging Melanie zu dem Mahagoni-Klapptisch, den sie als Schreibtisch benutzte. Sie schob die Papierstapel beiseite, bis sie auf den überfüllten Kalender darunter sehen konnte. Da war es. Von eins bis fünf, danach ein Essen in der Cafeteria. Da stand es schwarz auf weiß. Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »So ein Mist!«
Patricia wich einen Schritt zurück, so dass sie mit dem Rücken an der Tür stand.
»Gibt's ein Problem?«
»Natürlich gibt's ein Problem. Ich wollte …« Sie riss sich zusammen. Sie wollte Patricia keinen Einblick in ihr Privatleben geben. Wollte die wachsende Entfremdung zwischen ihr und Brian nicht erwähnen. Die gegenseitigen Vorwurfe oder, noch schlimmer, das wachsende Schweigen. Sie winkte ab. »Ich bin in fünf Minuten da«, versicherte sie stattdessen.
Sie wartete, bis Patricia zur Tür hinaus war, dann drückte sie energisch einen der Knöpfe an ihrem Telefon. Leslie nahm ab. »Rufen Sie Brian für mich an. Sagen Sie ihm, es ist etwas dazwischengekommen. Sagen Sie ihm …« Wieder riss sie sich zusammen. »Sagen Sie ihm, es tue mir leid, aber es sei etwas dazwischengekommen.«
Sie legte den Hörer auf die Gabel, holte tief Luft und ging zur Tür.
3
Cutter Kehoe war eine genetische Rarität. Als Biker der dritten Generation stammte er direkt von jenem fehlgeleiteten Zweig der Menschheit ab, für den der treffende Begriff ›White Trash‹ geprägt worden war. Sie waren die recycelten Überreste einer älteren Zivilisation, die Außenseiter, Taugenichtse und Jammerlappen, die zu den niedergeschlagenen Mitläufern der tapferen Pioniere der neueren Nationen geworden waren. Immer einen Tag zu spät, immer einen Dollar zu wenig in der Tasche, trafen sie stets ein, nachdem die Sahnestückchen vergeben waren. So zogen sie, ohne Wurzeln zu schlagen, weiter nach Westen, dorthin, wo das Land noch nicht
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