Die Geisel
gesteckt hatte. Er senkte die Stimme: »Schau mal, was ich für dich habe.« Er ließ das Büchlein wieder in der Innentasche verschwinden. »Dieses Bild ist sehr alt und sehr wertvoll. Unersetzlich, wenn du verstehst, was ich meine.« Er hielt Dennis das Bildchen direkt vors Gesicht.
Das vergilbte Bildchen zeigte einen Jungen, der einen gestreiften Pyjama und einen Zylinder trug. Er breitete seine Arme aus, als wären sie Flügel, und schien zu schweben.
»Das ist John, Wendys Bruder. Er fliegt zusammen mit Peter Pan nach Nimmerland. Siehst du, wie glücklich er ist?«
Dennis betrachtete neugierig das Bild, das Søren langsam hin und her bewegte. »Das schenke ich dir, weil heute dein Geburtstag ist. Weil es dich nach Nimmerland bringt. Und weil du es verdienst.«
Langsam streckte Dennis die Hand nach dem Glanzbildchen aus. Als er es Søren aus der Hand nahm, schüttelte Søren sein Handgelenk. Eine grünliche Wolke stob aus dem Ärmel und legte sich auf Dennis’ Gesicht. Der Junge zwinkerte, während er die zerstäubte Flüssigkeit einatmete.
»Oh … Was war das?« Offenbar kitzelte es ihn in der Nase.
Søren lächelte. »Das war Glöckchen, die in deine Nase geschwebt ist.« Liebevoll drückte er die Nasenspitze des Jungen zusammen. »Schnapp!«
Dennis konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. »Wie lustig du bist.«
Søren richtete sich auf und nahm seine Hand. »Komm, die anderen warten auf uns.«
»Wer wartet?«
»Die verlorenen Jungs. Die werden dir gefallen. Die spielen auch Fußball.«
Hand in Hand spazierten sie am ausgetrockneten Kanal entlang, bis sie die Grünfläche erreichten, auf der Kinder und Erwachsene tagsüber Fußball spielten. Auf der Klosterwiese war im Lauf der Zeit schon manch große Karriere begründet worden. Doch nachts war es hier einsam und vollkommen still.
5
»Johnnys Sohn ist verschwunden«, sagte Jeanette am anderen Ende der Leitung.
»Welcher Johnny?« Maja war in Gedanken immer noch bei ihrer letzten Patientin, deren Akte sie gerade anlegte - einem halbwüchsigen Mädchen, das sich im Urlaub auf der griechischen Insel Kos eine Chlamydien-Infektion geholt hatte.
»Na, Johnny Vang, der ehemalige Fußballspieler.«
Maja lehnte sich im Stuhl zurück und seufzte auf. »Und woher bitte schön soll ich den kennen?«
»Mensch, der ging doch zwei Klassen über uns in die Schule, und wir waren völlig verknallt in den!«
»Sagt mir überhaupt nichts.«
»Honey, honey!«, begann Jeanette zu singen, um Majas Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.
»Johnny-Honey?«, fragte Maja.
»Ja, genau der Johnny!«
Maja lächelte in sich hinein. Sie konnte sich sehr genau an Johnny erinnern und das einzige Fußballspiel, das sie je besucht hatte. Sie war in die sechste Klasse gegangen, als die Schulmannschaft das Pokalfinale bestritt. Schon damals hatte Johnny sein Talent gezeigt und die Mannschaft als Kapitän aufs Feld geführt. Und während die Mitschüler ihn mit rhythmischen »Johnny-Johnny«-Rufen anfeuerten, hatten Maja und Jeanette ihr »Honey-Honey« angestimmt. »Was ist mit Johnny?«
»Sein Sohn ist verschwunden.«
»Wie meinst du das?«
»Na, verschwunden! So wie die anderen Jungs. Er wurde mitten in der Nacht aus seinem Bett geholt und zwar ebenfalls an seinem Geburtstag.«
Maja beugte sich vor, klickte auf das obere rechte Fenster und schloss die Patientendatei. »Und du rufst mich extra an, um mir das zu erzählen?« Majas Stimme klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
Am anderen Ende der Leitung entstand eine kurze Pause. »Ja, ich dachte, weil ja auch die Nachrichten schon davon berichten und …«
»Und?«
»Ich dachte eben, dass dich das interessieren würde«, sagte Jeanette kleinlaut. »Du warst doch schließlich mal mit ihm zusammen.«
»Nein, war ich nicht.«
»Jetzt hör aber auf, ich kann mich genau daran erinnern.«
»Ich schwöre, dass ich niemals mit einem Fußballspieler zusammen war und niemals mit einem Fußballspieler zusammen sein werde.«
»Bist du sicher, dass nicht du das warst?«
»Ganz sicher, du meinst bestimmt Annbrit. Die hat doch damals mit ihm gefummelt.«
»Echt?«, kicherte Jeanette.
»Na klar, bei dem Fest von Jens … Nach der Abifeier.«
»Also daran kann ich mich überhaupt nicht …«
»Natürlich nicht. Du warst ja auch sternhagelvoll und hast mit dem großen Henrik rumgeknutscht«, sagte Maja grinsend.
»Stopp, stopp, stopp!«, rief Jeanette am anderen Ende der Leitung. »Bitte stocher jetzt nicht in
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