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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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alten Wunden herum. Das war doch ein ziemlich traumatisches Erlebnis. Aber du und Stig, ihr müsst unbedingt bald mal zum Essen zu uns kommen, versprichst du mir das?«
    »Ja, klar, ich ruf dich an. Aber jetzt muss ich los«, fügte Maja hinzu und legte auf.
    Maja lächelte vor sich hin. Sie war sich ganz sicher, dass Annbrit binnen weniger Sekunden einen Anruf von Jeanette bekommen würde. Alles war wie früher, wo sie in einer Tour gekichert, geratscht und getratscht hatten. Sie staunte selbst darüber, wie sehr sie das vermisst hatte.
    Mit knurrendem Magen stand sie auf. Die Milchschnitten, die sie in den Behandlungspausen verdrückt hatte, hatten nur ihren Bauch aufgebläht, nicht ihren Hunger gestillt. Im Verlauf ihrer Schwangerschaft hatte sie sechzehn Kilo zugelegt, die meisten davon an Po und Oberschenkeln. Sie fühlte sich wie eine aufgeblasene Badeente. Insgeheim fürchtete sie, einen Teil davon nie wieder loszuwerden. Dann war sie endgültig zu einer fetten Vorstadtspießerin geworden.
     
    Im Aufenthaltsraum hatten sich Majas männliche Kollegen um den kleinen Fernseher in der Ecke geschart. Der Nachrichtensprecher war gerade dabei, die näheren Umstände des aktuellen Entführungsfalls zu beschreiben. Von Johnny Vang gebe es immer noch keinen Kommentar, sagte er, doch sie »arbeiteten« daran. Dann wurde ein Reporter eingeblendet, der sich am Tatort aufhielt und einen geschockten Nachbarn interviewte. Der weißhaarige ältere Herr konnte nicht begreifen, wie so etwas in ihrer friedlichen Wohngegend geschehen könne.
    »Das tut mir so leid für Johnny«, sagte Lars, der Praktikant und jüngste ihrer männlichen Kollegen. »Ich hab ihn ein paar Mal untersucht. Total netter Kerl und kein bisschen eingebildet.«
    Maja ging zum Kühlschrank und nahm ihr Lunchpaket heraus.
    Henning, der in die Jahre gekommene Kinderarzt des Ärztehauses, hatte ihn ebenfalls kennengelernt. Allerdings nicht in der Praxis, sondern in der Kneipe, die Johnny nach dem Ende seiner Karriere eröffnet hatte.
    Die Männer vergaßen den Fernsehbericht und begannen stattdessen, sich über Johnny zu unterhalten. Maja lauschte ihren Gesprächen mit halbem Ohr, während sie ihr Mittagessen auspackte. Sie erfuhr, dass Johnny für seinen Heimatclub in der Ersten Liga gespielt hatte. Als die Mannschaft in die Zweite Liga abgestiegen war, hatte er seinem Club die Treue gehalten, statt zu einem anderen Erstligaverein zu wechseln. Zwar gelang es Johnny nicht, mit seiner Mannschaft wieder aufzusteigen, doch bescherte ihm seine Vereinstreue einen Kultstatus in seiner Heimat. Außerdem sorgten die Fußballfans seines Vororts seither für stabile Umsätze von »Johnnys Bodega«, die unmittelbar neben dem Stadion lag.
    Maja watschelte mit ihrem Sandwich in der Hand zum Fernseher hinüber und sah in diesem Moment das Foto eines Jungen im Fußballtrikot. Sie erkannte sofort die langen blonden Haare und das rebellische Lächeln, das Johnny stets ausgezeichnet hatte, allerdings handelte es sich nicht um ihn, sondern um seinen Sohn, der ein Abbild seines Vaters war. Dass sie sich zum Verwechseln ähnlich sahen, bereitete ihr ein mulmiges Gefühl.
    Der Reporter, der vor Johnnys Haus stand, berichtete, dass Dennis aus seinem Zimmer verschwunden war. Vermutlich sei er vom selben Täter entführt worden, der die anderen drei Jungen ermordet hatte. Jedenfalls glichen sich die äußeren Umstände. Maja lief ein kalter Schauer über den Rücken, während sie weitere Details erfuhr.
    Der Reportage folgte ein Interview mit Polizeirätin Katrine Bergman vor dem Polizeipräsidium. Sie versicherte, dass sich alle verfügbaren Einsatzkräfte an der Suche nach dem Jungen beteiligten. Auf die Frage, ob sie erwarte, den Jungen lebend zu finden, antwortete sie bloß, dass sie alles in ihrer Macht Stehende unternahmen.
    »Die arme Familie! Hoffen wir alle, dass der Junge gesund zu seiner Familie zurückkehrt«, sagte Skouboe in den Raum hinein.
    Maja hatte das Gefühl, als rücke die Katastrophe einen Schritt näher an sie heran. Was keinen Sinn ergab. Sie kannte weder Johnny noch seine Familie. Dennoch ging ihr das Foto seines Sohnes nicht mehr aus dem Kopf, als sie in ihr Büro zurückkehrte. Sie dachte daran, welche Hölle die Eltern gerade durchmachen mussten, während sie untätig auf eine Nachricht der Polizei warteten. Hin und her geworfen zwischen Ohnmacht und Hoffnung.
     
    Maja konnte es einfach nicht lassen. Ihre Finger wanderten wie von selbst über die Tastatur.

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