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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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klatschen. Danach machten sie Atemübungen, bis ihre Köpfe blau und sie völlig durchgeschwitzt waren. Es kam Maja schon ziemlich absurd vor, mit Stig und all den anderen im Saal B des Nachbarschaftshauses auf den muffigen Matratzen zu liegen, während Mona wie ein Derwisch um sie herumtanzte. Doch andererseits hatte es auch seinen tiefen Sinn, dachte Maja, während sie in Schweiß gebadet auf dem Rücken lag. Denn nichts und niemand konnte ihr den Traum eines kleinbürgerlichen, idyllischen und durch und durch normalen Lebens nehmen. Weder Jeanette, die sich das Maul über obduzierte Kinder zerriss, noch Katrine, die ihren Parkplatz besetzte und ihre mörderischen Recherchen vorantrieb. Auch nicht die geschmacklosen Titelseiten des Ekstra Bladet. Auch sie würde die Fenster schließen und die Haustür verriegeln. Ihren Kindheitstraum mit Zähnen und Klauen verteidigen.
     

4
    Søren hob den kleinen Jungen über das niedrige Eisentor hinweg. »Wir sind gleich da, Dennis«, sagte er und stellte den Jungen auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns ab. Dennis war ein bisschen wackelig auf den Beinen. Er trug seine gelbe Shorts und ein rotes Fußballtrikot in den Farben seines Heimatklubs. Seinen Oberarm zierte eine grüne Binde, die zeigte, dass er der Kapitän einer Kindermannschaft war. Das Trikot sah so zerknittert aus, als hätte er darin geschlafen. Mit glasigem Blick schaute er zu Søren auf und versuchte, sich an der Nase zu kratzen. Doch wegen seines benommenen Zustands hatte er Schwierigkeiten, sie zu treffen. »Ist das wirklich der Weg nach Nimmerland?«, nuschelte er.
    »Aber natürlich, mein Kleiner. Hier kann man den ganzen Tag Fußball spielen … Und auch in der Nacht.«
    Søren schwang die Beine elegant über das Tor und nahm das Seil, das er über der Schulter trug. Er schaute sich besorgt um, weil er nicht sicher war, ob bereits der Morgen graute oder ob sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er blickte zum Himmel empor, wo die Sterne immer noch deutlich zu erkennen waren. Noch Zeit genug. Er lächelte, als er ihre Stimmen hörte. »Komm schon, Peter Pan«, riefen die Jüngsten.
    »Komm, Dennis, hier geht’s lang. Pass auf, dass du nicht über die Wolken stolperst.«
    Dennis folgte ihm kichernd. Sie stapften durch das verdorrte Gestrüpp bis zu der verlassenen Schleusenstation, deren Fassade mit Graffiti übersät war. Søren dirigierte Dennis um das Gebäude herum und auf den Trampelpfad, der zum Wasser hinabführte.
    »Bist du sicher, dass wir hier sein dürfen?«, fragte Dennis.
    »Wir dürfen alles. Es gibt niemanden mehr, der über uns bestimmt. Komm!«
    Er half Dennis den flachen Abhang hinunter, bevor sie gemeinsam über die glatten Betonmauern rutschten, die als Begrenzungen eines stillgelegten Abwasserkanals dienten. Durch die Hitze war der Kanal fast völlig ausgetrocknet. Nur ein schmales Rinnsal plätscherte an der rechten Kante entlang. Der übrige Betonboden war mit grünem Schleim bedeckt.
    »Pass auf, Dennis, dass du nicht ausrutscht.«
    Weiden standen zu beiden Seiten des Kanals und schirmten das Mondlicht ab. Auf dem Grund des Kanals sah man kaum die Hand vor Augen.
    »Mir gefällt es hier nicht!«, sagte Dennis. Seine verzerrten Lippen und sein flackernder Blick signalisierten, dass er den Tränen nahe war.
    »Niemandem gefällt es hier, Dennis. Absolut niemandem.«
    »Aber warum sind wir dann hier?«
    »Um Käpt’n Hook und seinen Männern auszuweichen.«
    Dennis blieb erschrocken stehen. »Ist Hook hier in der Nähe?«
    Søren ging in die Knie. »Hook ist überall.«
    Dennis öffnete den Mund und wollte losheulen, als Søren ihm den Zeigefinger an die Lippen hielt.
    »Pst«, sagte er und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Wenn wir nicht mucksmäuschenstill sind, dann findet er uns. Und wenn er uns findet, stellt er schreckliche Dinge mit uns an. Dinge, die uns nicht gefallen … die uns wehtun.«
    Søren nahm den Finger von seinen Lippen. Dennis starrte ihn mit leerem Blick an.
    »Wir haben nur eine Chance, wenn wir rechtzeitig nach Nimmerland kommen. Dort können wir ihn umbringen. An jedem einzelnen Tag.«
    »Wir gewinnen also am Ende?«
    »Wir gewinnen morgens, mittags und abends.« Er kitzelte Dennis am Bauch.
    Der Junge zuckte zusammen und lächelte wieder. Søren zog den Reißverschluss seiner Jacke nach unten und holte sein Exemplar von Peter Pan hervor. Er schlug das Buch auf und zog behutsam das Glanzbildchen heraus, das er zwischen die Seiten

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