Die Geisel
Den ganzen Sommer hindurch hatte sie alles dafür getan, sich die Morde vom Hals zu halten. Doch jetzt suchte sie im Patientenregister nach dem Namen Dennis Vang, ohne genau zu wissen, warum sie es tat.
Ihre Nachforschungen waren einfacher als die der Polizei. In Dennis Vangs Patientenakte stand nichts Auffälliges. Abgesehen von der letzten Eintragung, die gut acht Monate alt war. Von Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten in der Schule war da zu lesen. Henning hatte notiert, dass der Schulpsychologe verständigt worden sei. Man hatte eine medikamentöse Behandlung in Erwägung gezogen, wollte aber zunächst abwarten.
Von ihrer eigenen Ausbildungszeit in der Pädiatrie wusste Maja, dass der Leistungsdruck der Eltern schon bei Erstklässlern Stresssymptome auslösen konnte. Vielleicht hatte auch Papa Johnny sich in dieser Hinsicht etwas zuschulden kommen lassen. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie würde Walnuss gegenüber stets liebe- und verständnisvoll sein. Ihn unterstützen statt ihn unter Druck zu setzen. Sie wollte eine gute Mutter sein. Immer.
6
Es klang wie ein Kinderreim. Irgendwas mit »Haus bauen« oder »sich ein Haus wünschen«. Die Feen schwirrten kichernd um Maja herum. Sie spürte, wie ihre zarten Flügelchen ihr Gesicht und ihre Schultern streiften. Im Hintergrund stimmten Kinder in den Refrain eines Liedes ein: »Ich wünsche mir ein Haus so fein, das kleinste Haus auf Erden. Das soll mit seinem roten Dach mir eine Heimat werden … « Der Gesang wurde vom Schwirren der Flügel übertönt. Maja wusste, dass sie träumte und gerade aufwachte. Dass das monotone Geräusch vielleicht Stigs Schnarchen war.
Sie schlug die Augen auf. Es war früh am Morgen. Trotz des geöffneten Fensters war es stickig und schwül. Ihr Nachthemd war völlig durchgeschwitzt. Sie drehte den Kopf zum Fenster, blickte in den Himmel, der bereits heller wurde, und strich Stig, der lautlos neben ihr schlief, sanft über die Wange. Sie fühlte sich wunderbar geborgen, wenn er neben ihr lag. Walnuss strampelte gegen ihre Blase, und sie spürte, dass sie auf die Toilette musste. Da sie ohnehin nicht mehr einschlafen würde, stand sie auf.
Das schwirrende Geräusch, das sie geweckt hatte, kehrte zurück, als ein Hubschrauber in geringer Höhe an ihrem Haus vorbeiflog. Doch als sie ans Fenster trat und hinausblickte, war er bereits verschwunden. Unter ihr war der Garten dunkel und verlassen. Nur die Weiden wiegten sich in der schwachen Brise. Im nächsten Sommer würden Stig und Walnuss auf der Terrasse sitzen und gemeinsam frühstücken. Sie hoffte, dass dies ein festes Ritual werden würde. Etwas, an das sich Walnuss später erinnerte.
Sie zog ihr Nachthemd aus. Es war herrlich kühl, nackt am offenen Fenster zu stehen. Sie dachte an den Hubschrauber, der sie geweckt hatte. Er hatte ganz anders geklungen als die großen Rettungshelikopter, die sie von ihrer Zeit am Rikshospital kannte. Dieser hatte ein fast knurrendes Geräusch von sich gegeben. Wie ein Raubtier auf der Jagd.
Es war nach sechs Uhr, und im Morgenradio lief Bill Withers »Ain’t No Sunshine«. Maja sang hinter dem Steuer mit.
Sie wollte früh bei der Arbeit sein, um endlich die Patientenakten zu vervollständigen, die noch nicht in ihr Register integriert waren. Im frühen Morgenlicht lag die Hauptstraße noch in tiefstem Frieden da. Genau wie damals, als sie mit ihrem Großvater Brot vom Bäcker geholt hatte. Das war ihr festes Sonntagsritual gewesen. Ihr Großvater hinter dem Steuer seines alten Mercedes Coupé und sie mit dem Kopf aus dem Fenster. Das fühlte sich an, als würden sie fliegen. Er liebte Jazz, alle Arten von Jazz. Und fast glaubte sie, noch immer sein charakteristisches Pfeifen und das rhythmische Trommeln seiner Finger auf dem Lenkrad zu hören.
Sie bog bei der nächsten Gelegenheit nach rechts und folgte dem Verlauf der Klosterwiese zu ihrer Rechten. Weit auf der Wiese schimmerten mehrere blaue Lichter durch den dichten Morgennebel. Maja bremste ab und hielt am Straßenrand. Sie stellte das Radio aus und fuhr die Scheibe hinunter. Draußen herrschte eine drückende Stille. Sie konnte nicht erkennen, was auf der Wiese vor sich ging oder wie viele Autos dort parkten.
Sie stieg aus und stapfte über das vergilbte Gras, den blau rotierenden Lichtern entgegen und vorbei an den weißen Fußballtoren, die jemand mitten auf der Wiese zusammengeschoben hatte. Ein paar Waldtauben flatterten erschreckt von einer
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