Die Geisel
1
Es war gegen drei Uhr morgens, als der dunkelblaue Ford Transit durch das Villenviertel rollte. Søren Rohde umfasste mit beiden Händen den untersten Teil des Lenkrads. Er hatte absichtlich die Scheinwerfer ausgeschaltet. Als er in den Krystalvej einbog, fuhr er bis zur Nummer fünfzehn und hielt dort an. Er stellte den Motor ab und blieb im Dunkeln sitzen. Es war eine mondlose Nacht, nur die Straßenlaternen warfen ein fahles Licht auf den Asphalt. Søren stieg aus dem Wagen und schloss lautlos die Tür. Er war schmächtig gebaut und gerade zweiundvierzig geworden, sah aber wegen seiner Stupsnase und dem blonden, engelhaften Haar wesentlich jünger aus.
Die Luft war warm und knochentrocken. Eine weitere der vielen Tropennächte dieses Sommers. Søren spürte, wie ihm sein T-Shirt am Rücken klebte. Eigentlich war es viel zu warm, um die grüne Windjacke darüber zu tragen, doch er hatte seine Gründe.
Er ging um den Wagen herum und bemerkte die zerquetschte Kröte auf der Straße. Sie lag auf dem Rücken, die Eingeweide quollen aus ihr heraus. Für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass er sie womöglich überfahren hatte. Aber der Kadaver war bereits eingetrocknet, es musste also früher am Tag geschehen sein.
»Armer Herr Kröterich«, murmelte er und ging die Auffahrt hinunter.
Durch seine Beobachtungen wusste Søren, dass die Backsteinvilla von einem älteren Ehepaar bewohnt wurde. Er wusste auch, dass die beiden an diesem Morgen mit ihrem Hyundai samt Wohnwagen in den Urlaub gefahren waren. Doch war er weder an ihnen noch ihrem Haus interessiert. Vielmehr war es das Loch in der Gartenhecke, auf das er es abgesehen hatte.
Seine Finger tasteten im Dunkel, ehe er die teils zugewachsene Öffnung fand. Geschmeidig kroch er hinein und drang in geduckter Haltung in den angrenzenden Garten vor, ohne das kleinste Geräusch zu verursachen oder Fußabdrücke auf der trockenen Erde zu hinterlassen. Auf der anderen Seite angekommen, wischte er sich vorsichtig seine Hände sauber, holte die roten Gummihandschuhe aus der Innentasche seiner Jacke und zog sie an. Sie spannten sich stramm um seine Finger - ein Gefühl, das ihm außerordentlich gut gefiel. Er nahm ihren Talkumgeruch wahr. Es war ein seltsamer Duft, und er fühlte sich vollkommen sicher.
Vor ihm lag das weiß gestrichene Haus. Er hatte sich absichtlich von hinten genähert, um nicht von der Straße aus gesehen zu werden, die an die Vorderseite angrenzte. Niemand hatte ihn kommen sehen, und was noch wichtiger war: Niemand würde sehen, wie er mit seiner Beute wieder verschwand. Er blickte zum Fenster im ersten Stock hinauf. Wie erwartet war es gekippt. Der mit historischen Flugzeugen gemusterte Vorhang bewegte sich sacht in der sanften Brise.
Søren überquerte die ausgebleichte Rasenfläche und schlich zur Garage hinüber. An der Rückseite hing eine Leiter, die er mitnahm. Er trug sie zum Haus, drehte sie um und lehnte sie unmittelbar unterhalb des Fensters im ersten Stock an die Hausmauer. Vorsichtig kletterte er zum Fenster hinauf, schob seinen Zeigefinger in den schmalen Spalt und löste die Fensterhaken.
»Als hätte der Atem kleiner Sterne sie gelöst«, flüsterte er.
Auf der gegenüberliegenden Seite des schmalen Kinderzimmers lag ein kleiner Junge in seinem Bett und schlief. Søren schlängelte sich an dem Mobile mit Modellflugzeugen vorbei, das von der Decke baumelte. Es war ein hübsches Zimmer. An den hellblauen Wänden hingen Poster mit Comicfiguren. Er gab acht, dass er nicht versehentlich auf eines der auf dem Boden verstreuten Spielzeuge trat. Er beugte sich über den Jungen und sog seinen Geruch ein. Ein süßlicher Duft stieg aus der Wärme des Bettes auf. Søren biss sich in die Wangen, bis ihm Tränen in die Augen stiegen. Bis sein Begehren langsam wieder verschwand.
In einer fließenden Bewegung ließ er seine Hand dicht am Gesicht des Jungen vorbeistreichen. Eine giftgrüne Staubwolke stob von seinem Handgelenk auf. Søren lächelte stolz. Noch die kleinste Bewegung führte er genau so aus, wie er geplant hatte. Die feuchten Perlen der zerstäubten Flüssigkeit legten sich auf Nase und Mund des Jungen. Er inhalierte die Flüssigkeit im Schlaf und gab ein leises Niesen von sich.
»Gesundheit«, flüsterte Søren und setzte sich behutsam auf die Bettkante. Im Haus war es vollkommen still. Er hörte das Ticken des Micky-Maus-Weckers auf der Kommode. Nach ein paar Minuten schüttelte Søren vorsichtig den Fuß des
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