Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
sobald der Liftboy außer Hörweite war. »Sie sind nur nicht mehr ganz so reich wie vormals.«
»Vor was?« Auf der Stirn von Maria del Roser erschienen einige parallele, feine Falten.
»Vor der Krise. Man sagt, dass sie die ganze Welt betrifft, nicht nur die Menschen in Barcelona. Die einen mehr, die anderen weniger, aber alle haben dabei verloren.«
»Nein, Conchita, lass dich nicht täuschen. Die wirklich Reichen verlieren fast niemals etwas. Die verlieren vielleicht ein wenig von ihrer Schamlosigkeit, denn bei so vielen Anarchisten darf man sich nichts anmerken lassen. Kennst du etwa einen Anarchisten?«
»Nein, Señora, keinen einzigen.«
»Das ist auch besser. Mach so weiter. Anarchisten gehen nur in Häuser und stehlen einem die Teppiche. Und dann zünden sie alles an. Aber zuerst geht es ihnen um die Teppiche. Sie lieben Teppiche.« Doña Maria del Roser schrak zusammen. »Aber was schwatzen wir denn hier vor uns hin? Wir müssen nach Hause, Conchita. Haben wir alles, was wir brauchen? Denk scharf nach.«
»Ja, Señora.«
»Bist du sicher, dass nichts fehlt? Vielleicht noch irgendein Kochtopf für das Essen morgen?«
»Nein, Señora. Wir haben genügend Kochtöpfe.«
»Bist du dir da sicher?«
»Ganz sicher, Señora.«
»Dann weiß ich gar nicht, was wir hier eigentlich machen.«
Etwas schleppend, aber mit dem für sie typischen eleganten Schritt trat Doña Maria del Roser auf die Straße hinaus. Julián wartete auf den Ramblas, ein paar Meter weiter, am Steuer des Citroën. Als er die Frauen herauskommen sah, stieg er schnell aus dem Auto, um die hintere Wagentür zu öffnen und der Matriarchin seinen Arm anzubieten, damit sie besser einsteigen konnte. Dann, wenn auch mit weniger Elan, tat er das Gleiche bei Concha. Die beiden klammerten sich mit mehr Nachdruck an den Arm des altgedienten Fahrers, als es die Höflichkeit gebot. Für die beiden Frauen, die schon über sechzig Jahre alt waren, war es kein leichtes Unterfangen, sich in dieses moderne Gefährt zu zwängen, und noch weniger, da ihre einzige Hilfe ein fast siebzigjähriger Fahrer war.
Die Señora saß schließlich auf ihrem Platz und schnaufte. Concha folgte ihr, und Julián seufzte, vermutlich vor Erleichterung, dass das Einstiegsmanöver ohne weitere Zwischenfälle erfolgt war und er wieder an seinen Posten hinter dem Steuer zurückkehren konnte.
Sobald der Motor zu brummen begann, sagte die Señora mit einem letzten Blick auf die hellerleuchteten Türen des Warenhauses: »Die Kroketten sind mir nicht bekommen, Conchita. Ich habe hier etwas …«
Dabei deutete sie auf ihren Magen, der von dem Korsett eingezwängt war.
»Wir fahren nach Hause, Felipe«, ordnete sie dann an. »Das ist keine Uhrzeit, zu der sich anständige Damen auf der Straße aufhalten.«
Der alte Fahrer war keineswegs beleidigt, dass die Señora sich nicht an seinen Namen erinnerte. Er fühlte sich eher geschmeichelt, weil sie ihn mit dem Namen seines Vaters anredete, der sein Leben im Dienst des ersten Señor Lax auf dem Kutschbock zugebracht hatte, beflissen und ruhig, wie es sich für gutes Personal geziemt. Julián hatte Don Rodolfo zu dessen Lebzeiten so vergöttert, wie er ihn nach seinem Tod in Erinnerung behielt, und in letzter Zeit war er dankbar, dass die Señora mit ihrem zerstreuten Gedächtnis diesen großartigen Mann wieder zum Leben erweckte.
Über der Markise des Haupteingangs von El Siglo wünschte eine Puppenfamilie mit einem Schild Fröhliche Weihnachten . Die Schaufenster waren hell erleuchtet. In der größten Auslage drehte eine elektrische Eisenbahn mit Waggons, die mit winzigen Geschenkpaketen überladen waren, ununterbrochen ihre Runden. Ganz in der Nähe sang jemand ein Weihnachtslied. Durch die großen Drehtüren gingen die Leute ein und aus.
Der Citroën fuhr die beliebteste Straße der Stadt in Richtung Meer hinunter. Die Señora schloss die Augen. Concha ließ sich von der heiteren Feststimmung anstecken, von dem letzten Sonnenschimmer an diesem eisigen Tag, von dem fröhlichen Treiben auf den Straßen. Sie betrachtete die reichgestalteten Ornamente in der Fassade des Sitzes der Compañía de Tabacos de Filipinas, und sie bekreuzigte sich, als sie an der Iglesia del Belén vorbeifuhren, der sie, wie so viele Barcelonesen, am Morgen ihren obligatorischen Jahresbesuch abgestattet hatte. Sie sah in der Ferne die Stände der Blumenhändler und verspürte ein wenig Sehnsucht nach den Zeiten, in denen kein Motorknattern die Blumen
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