Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Geräusch, als das Metallplättchen auf dem Grund des Schachts auftraf. Der Junge fluchte, und Shirley verpasste ihm einen weiteren Schlag in den Nacken, diesmal mit der flachen Kante des Ellbogens. Er krümmte sich vor Schmerzen, zog es vor, keinen weiteren Widerstand zu leisten, und ließ sich auf den Boden sinken.
»Siehst du? Ich habe dir ungefähr das Gleiche angetan wie du uns vorhin. Deine Marke ist weg … Jetzt verschwinde und denk darüber nach. Verstanden, Arschloch?«
Einen Arm immer noch schützend vor sich haltend, stand der Junge schwankend auf und wollte seine Kleider zusammensuchen, doch Shirley schüttelte den Kopf.
»Du gehst so, wie du bist … in Unterhose und Socken. Los, verschwinde, Scheißkerl.«
Ohne weitere Proteste machte er sich davon. Shirley wartete, bis er verschwunden war. Sie knüllte seine Kleider zusammen und warf sie in den Müllcontainer vor einer Baustelle. Dann brachte sie ihre eigene Kleidung wieder in Ordnung, zog ihre Hose hoch, rückte den Mantel zurecht und stieß eine letzte englische Verwünschung aus.
Joséphine starrte sie verblüfft an. Dieser Ausbruch von Gewalt hatte ihr die Sprache verschlagen. Shirley zuckte mit den Schultern.
»Das ist auch einer der Gründe, warum ich keinen Freund habe … Zweiter Tipp!«
Sie ging zu Jo, untersuchte ihre blutende Nase, zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und tupfte ihr das Gesicht ab. Joséphine jaulte auf.
»Nicht so schlimm …«, sagte Shirley. »Sie ist nicht gebrochen. Nur ein schlimmer Schlag! Morgen wird sie in allen Farben leuchten. Sag einfach, du wärst beim Hinausgehen gegen die Glastür des Friseursalons gelaufen. Und kein Wort zu den Kindern heute Abend, einverstanden?«
Joséphine nickte. Sie hätte Shirley gern gefragt, wo sie gelernt hatte,
so brutal zu kämpfen, aber sie wagte nicht, ihr weitere Fragen zu stellen.
Shirley öffnete ihre Handtasche und sah nach, ob etwas fehlte.
»Hast du alles?«
»Ja…«
»Dann los!«
Sie nahm sie am Arm und zog sie mit sich. Joséphines Knie zitterten, und sie bat Shirley, kurz stehen zu bleiben, damit sie sich von dem Schreck erholen konnte.
»Das ist ganz normal«, sagte Shirley. »Das war deine erste Schlägerei. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran … Glaubst du, du schaffst es, dir vor den Kindern nichts anmerken zu lassen?«
»Ich könnte einen Schnaps vertragen … In meinem Kopf dreht sich alles!«
Im Eingangsflur ihres Hauses trafen sie auf Max Barthillet, der auf den Stufen neben dem Aufzug saß.
»Ich hab keinen Schlüssel, und meine Mutter is noch nich zurück…«
»Schreib ihr einen Zettel, dass du oben bei mir wartest«, sagte Shirley in so bestimmtem Ton, dass der Junge ohne zu zögern einwilligte. »Hast du etwas zu schreiben?«
Er nickte und deutete auf seine Schultasche. Dann ging er die Treppe hoch in den zweiten Stock, um seiner Mutter einen Zettel an die Wohnungstür zu hängen.
Joséphine und Shirley nahmen den Aufzug.
»Ich habe kein Geschenk für ihn!«, sagte Jo und betrachtete ihre Nase im Aufzugspiegel. »Scheibenkleister, ich sehe ja furchtbar aus!«
»Joséphine, wann sagst du endlich ›Scheiße‹ wie jeder andere Mensch auch! Ich stecke ihm einen Schein in einen Umschlag, das brauchen sie bei den Barthillets im Moment am nötigsten.«
Sie drehte Jos Gesicht zu sich und musterte aufmerksam ihre Nase.
»Ich tue dir gleich ein bisschen Eis drauf… Und vergiss nicht: Du bist beim Friseur gegen die Glastür gelaufen. Verplapper dich nicht! Es ist Weihnachten, wir sollten ihnen nicht das Fest verderben, indem wir ihnen Angst machen.«
Joséphine holte die Mädchen und die Geschenke, die sie auf dem
obersten Brett ihres Schlafzimmerschranks versteckt hatte. Die beiden lachten sich halb tot über ihre schusselige Mutter und deren geschwollene Nase. Als sie bei Shirley klingelten, hörten sie schon englische Weihnachtslieder, und Shirley öffnete ihnen mit einem strahlenden Lächeln die Tür. Jo erkannte die wütende Furie, die drei halbstarke Rowdys in die Flucht geschlagen hatte, kaum wieder.
Hortense und Zoé kreischten vor Freude, als sie ihre Geschenke auspackten. Und als Gary den iPod sah, den Jo für ihn gekauft hatte, machte er einen Luftsprung. »Yes, Jo!«, rief er. »Maman wollte nicht, dass ich einen bekomme. Du bist die Beste! Total spitze!« Er fiel ihr um den Hals und zerquetschte ihr dabei die Nase. Zoé starrte ungläubig ihre Disneyfilme an und streichelte den DVD-Player. Hortense war sprachlos:
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