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Die gelehrige Schuelerin

Die gelehrige Schuelerin

Titel: Die gelehrige Schuelerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ira Miller
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schnell.
    Die Stunde ging glatt. Ich konnte den vorgeschriebenen Stoff schnell durchgehen und bat sie zehn Minuten vor Unterrichtsschluss, die Bücher zu schließen. Von Franklins Enthaltsamkeit wechselte ich zum Alkoholproblem unter Jugendlichen über. Schläfrige Augenlider öffneten sich ein wenig, und nach und nach fingen die Kinder an zu berichten, was der Alkohol bei ihnen bewirkte. Die meisten tranken Bier. Jemand sagte, dass er nur ab und zu Gras nehme, und dass sich das kaum lohne.
    Ich hörte mich selbst, zehn Jahre früher (mit dem Unterschied, dass ich Drogen genommen hatte!). Sie sprachen von der Flucht, dem Unabhängigkeitsgefühl und der Leichtigkeit, mit der sie Freundschaftsprobleme bewältigen könnten, wenn sie leicht angetrunken oder völlig betrunken wären.
    »Ich war schon seit Monaten verrückt danach, mit Susan auszugehen«, sagte James, »aber ich habe es nie fertig gebracht, bis ich sie einmal auf einer Party traf. Ich hatte getrunken. Ging einfach zu ihr hin und sagte: ›Verdammt, wir beide hätten schon längst mal miteinander ausgehen sollen.‹ Einfach so. Es war leicht.«
    Ein paar Schüler nickten bestätigend.
    Es war nicht so, dass der Hippie in Mr. Lester sich an die Schüler heranmachte, um sie zum Sprechen zu bringen. Sie brauchten einen Erwachsenen, der ihnen zuhörte, ein Echo, das ihnen die erhoffte Bestätigung widerhallte.
    Wenn ich an mich zurückdachte, als ich in ihrem Alter war, konnte ich ihre Bedürfnisse nachempfinden. Wenn ich mich aber als Lehrer sah, musste ich darauf achten, gute Bürger aus ihnen zu machen.
    Hätte ich ihnen gesagt, dass sie Unrecht hätten, wäre dies wahrscheinlich die letzte Diskussion dieser Art gewesen. Hätte ich ihnen aber recht gegeben, wäre ich administrativen Maßregelungen ausgesetzt gewesen, wenn meine Meinung bekannt geworden wäre.
    »Ihr habt eine Menge Belastungen auszuhalten«, sagte ich. »Ständig werdet ihr ausgefragt – laut von anderen, stumm von euch selbst –, was ihr mit eurem Leben anfangen wollt. Wer seid ihr? Was seid ihr? Gut – schlecht? Stark – schwach? Und das ist schwer. Ihr entdeckt jetzt Liebe, Sex und Unabhängigkeit. Dadurch entsteht noch mehr Druck, und der ist ebenfalls schwierig zu handhaben. Wenn ihr euch am Wochenende gehen lasst und betrinkt, sieht alles viel einfacher aus.« (Der bescheuerte Lehrer in mir gewann wieder die Oberhand.) »Aber was geschieht danach? Was passiert, wenn ihr ohne das Zeug gar nichts mehr tun könnt?« Einige murmelten leise: »Ach, Scheiße.«
    »Ich hasse das Wort Krücke, aber …«
    »Wie fühlen Sie sich, wenn Sie
high
sind?«, fragte Annie ruhig aus dem Hintergrund. Ihre Stimme klang sicher und herausfordernd. Die Klasse drehte sich um, überrascht, sie sprechen zu hören. Dann aber sahen alle mich erwartungsvoll an.
    Die Glocke ertönte.
    Sie meckerten. Ich war in der Zwickmühle, und sie hätten zu gern gesehen, wie ich mich da herauswand.
    »In Ordnung. Vergesst eure Hausaufgaben nicht. Franklins Autobiographie.«
    Ich hätte sagen können: »Morgen machen wir da weiter«, aber morgen würde ich wieder ganz der Lehrer sein. Das Loch, in das ich jetzt fiel, hatte ich mir selbst gegraben. Ich war von dem abgewichen, was der Direktor »Erziehung« nannte.
    Es war ein herrliches Gefühl, die Kinder zum Reden zu bringen, ohne sie auszufragen, verlegen machen oder aber bei Laune halten zu müssen – ein ganz leichter Spannungsbogen, der sofort unterbrochen wurde, sobald ein lehrerhaftes Wort durch den Raum flog.
    Als die Schüler aus der Klasse gingen, gruppierten sich ein paar Mädchen um meinen Tisch, pflichteten mir bei, schworen, dass sie niemals trinken würden und dass sie wünschten, einige Jungen würden damit aufhören. Ich fühlte mich wieder etwas sicherer.
    Dann gingen auch sie. Ich sah Annie ganz allein hinten im Klassenzimmer.
    Sie starrte mich an. Ihre Augen blickten stahlhart durch den Raum. Wieder tauchte ihr Lächeln auf – dünn, sarkastisch, ihre Zähne kaum sichtbar.
    Die Schüler der nächsten Klasse tröpfelten langsam herein.
    Annie stand auf, griff nach ihren Büchern und ging.
    Ein leiser Nachhall von »wir sind Menschen« begleitete sie hinaus.
    Nach dem Abendessen saß ich allein in meiner Wohnung.
    In der Küche roch es nach Leber und gebratenen Zwiebeln.
    Ich spürte, dass ich unwahrscheinlich geil war.
    Um den Geruch zu vertreiben, stellte ich den Wrasenabzug über dem Herd an, aber ich wusste nicht, was ich gegen meine Geilheit tun

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