Schwindel
1
Ich war so glücklich. Ich hatte mich so gefreut.
Ich hatte ja keine Ahnung.
An jenem Donnerstag, dem vierten Oktober, war der Himmel weit und blau, wie er nur im Frühherbst ist. Als ich mittags von
der Schule nach Hause ging, kreisten hoch über dem Stoppelfeld drei Bussarde und fachten mit ihrem hellen Schrei mein Fernweh
an. Ich hätte wohl auf den goldschimmernden Acker hinauslaufen und Drachen steigen lassen wollen, wäre ich nicht schon bald
siebzehn Jahre alt gewesen und hätte ganz andere Dinge im Kopf gehabt.
Bei dem Gedanken an das bevorstehende Wochenende mit meinem Freund schlug mein Herz schneller, ich kam aus dem Laufrhythmus,
stolperte. Auf der Straße lagen Kastanien, von denen viele noch ihre grüne, stachelige Schale trugen, aus der gerade die glänzende
Frucht hervorbrach. So fühlte ich mich auch, ein Herz, das sich aus seiner Drachenhaut befreit, ein Körper, der eine Häutung
durchmacht, eine Seele in Aufruhr, und das alles wegen Julian.
Gerade mal sechs Wochen war es her, dass er und ich im Schulflur aufeinandergestoßen waren, gleich am ersten Tag nach den
Sommerferien. Auf der Suche nach meinem Klassenraum hatte ich eilig eine der gläsernenVerbindungstüren auf den Fluren aufdrücken wollen, aber diese gab nicht nach, sodass ich mit dem Kopf fast gegen die Scheibe
prallte.
»Ziehen«, sagte eine müde Stimme neben mir.
»Sorry, bin den ersten Tag hier!«
»Ich auch.« Lautes Gähnen. »In den Ferien hatte ich den Saftladen hier schon fast vergessen.«
»Ich bin aber wirklich neu«, erklärte ich, »umgezogen. Heute ist in doppelter Hinsicht mein erster Schultag. Mir fehlt nur
die Zuckertüte.«
Warum ich den Blödsinn mit der Zuckertüte sagte, weiß ich nicht, mir kommen manchmal solche Dinge in den Kopf. Schon bereute
ich meine Bemerkung, aber der Junge fand sie wohl originell.
»Und was wolltest du in deiner Schultüte drinhaben?«, fragte er nun etwas wacher, während er neben mir herging, als seien
wir schon lange befreundet. »Buntstifte und Blockflöte?«
»Wie wär’s mit CD-ROMs und Zigaretten?« Ich legte den Kopf schief, unsicher, ob ihm auch diese Antwort gefallen würde. Der
Wahrheit entsprach sie sicher nicht. Mein Computer war eine alte Schrottkiste, Rauchen tue ich bis heute nicht, mit Buntstiften
kann ich durchaus noch etwas anfangen und Musik mache ich auch.
Der Junge bekam jetzt richtig gute Laune. »Genau, und dazu noch ein Handy, ein paar Computerspiele, bisschen Kohle, bisschen
Hasch …«
Nett sah er aus: groß und sportlich, strubbelige braune Haare, Augen wie dicke, leuchtende Brombeeren und ein Grinsen zum
In-die-Knie-Gehen. Ja, meine Kniewaren tatsächlich etwas weich. Aber das hieß nichts, das waren sie öfter.
Wir waren vor den Klassenräumen der Zehner angekommen. Der Junge begrüßte einige meiner neuen Mitschüler.
»Tolle Zuckertüte, voll pädagogisch«, sagte ich noch zu ihm und lachte ihn an, in der Hoffnung, auf diese Weise vielleicht
insgesamt leichter Anschluss zu finden.
»Na ja, man muss mit der Zeit gehen!« Er zwinkerte mir zu. »Ich heiße Julian, bin in der Zwölf. Vielleicht sehen wir uns mal
wieder.«
»Ja, vielleicht.« Wir hielten ein paar Sekunden länger Blickkontakt als nötig. Ich wusste sofort, dass ich ihn mochte, was
irritierend war, denn ich kann nicht sagen, dass mir das bisher mit vielen Leuten so gegangen ist. Bei meiner Urlaubsfreundin
Sarah vielleicht, die ich auf dem Campingplatz an der Ostsee kennengelernt hatte, und ein bisschen auch beim Fuchs, der mich
gleich, als er mir das erste Mal die Tür öffnete, so entwaffnend offen und neugierig anlächelte, dass ich meine Scheu vergaß
und mich auf ihn einließ.
Sympathie auf den ersten Blick gab’s also wohl, aber die berühmte »Liebe«? Nein! Nein, ich glaubte nicht daran, dass ich mit
Julian auch nur noch einmal sprechen würde. Für einen zwei Jahre älteren Jungen, der schon lange hier wohnte und sicherlich
eine Freundin hatte, fand ich mich einfach nicht interessant genug.
Doch wir trafen uns tatsächlich wieder, und zwar gleich in der großen Pause. Er stellte sich neben mich in die Warteschlange
am Schulkiosk, nannte mich »Zuckertüte« und bat wie selbstverständlich, vorgelassen zu werden.
»Dein Freund?«, fragten meine Mitschülerinnen sofort und so wenig leise, dass Julian, der nun direkt vor uns an der Theke
stand, es hörte.
Ich schüttelte kurz den Kopf. »Wir haben uns heute Morgen
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