Die Geliehene Zeit
Wakefield gegeben hatte. Ich breitete den Bogen auf meinen Knien aus und starrte blind auf die Namen. Langsam ließ ich den Finger über die Zeilen gleiten und flüsterte die Namen der Männer wie ein leises Gebet. Sie gehörten in die kalte Frühlingsnacht, weitaus mehr als ich. Trotzdem blickte ich weiterhin in die Flammen, damit die Dunkelheit von draußen die Leere in mir ausfüllen konnte.
Als ich ihre Namen ausgesprochen hatte, war mir gewesen, als hätte ich sie zusammengerufen. Und damit hatte ich den ersten Schritt auf dem Weg durch die leere Dunkelheit getan, der zu dem Ort führte, wo sie auf mich warteten.
2
Spurensuche
Roger verließ Culloden House am nächsten Morgen mit zwölf Seiten Notizen und einem wachsenden Gefühl der Verwirrung. Was zunächst wie ein durchschnittliches Projekt historischer Recherche ausgesehen hatte, zeigte immer mehr Knoten und Verwicklungen.
In der Aufstellung der Gefallenen von Culloden hatte er nur drei Namen von Claires Liste wiedergefunden. Das war an sich nicht weiter bemerkenswert. Es war unwahrscheinlich, daß sich alle Soldaten des Bonnie Prince säuberlich in seine Heeresliste eingetragen hatten. Einige Clanoberhäupter hatten sich Charles Stuart offenbar nur aus einer vorübergehenden Laune heraus angeschlossen, und andere hatten ihn aus noch unbedeutenderen Gründen wieder verlassen, bevor sie offiziell erfaßt werden konnten. Die Registrierung der Armee des Prinzen war schon von Anfang an höchst planlos verlaufen und hatte gegen Ende des Feldzuges fast vollständig ihre Bedeutung verloren. Es hatte wenig Sinn, Soldlisten zu führen, wenn man keine Mittel hatte, um die Soldaten auszuzahlen.
Sorgsam faltete Roger sich zusammen und ließ sich mit geducktem Kopf in seinen Morris gleiten. Dann schlug er seinen Aktendekkel auf und blickte noch einmal auf die Blätter, die er gerade kopiert hatte. Seltsamerweise hatte er fast alle Namen von Claires Liste auf einer Heeresliste gefunden, allerdings auf einer anderen.
Niemanden würde es erstaunen, wenn einzelne Mitglieder der Clan-Regimenter Fahnenflucht begangen hatten, als sich das Ausmaß der Katastrophe abzeichnete. Nein, was ihn vor ein Rätsel stellte, war die Tatsache, daß die Namen der Männer von Claires Liste samt und sonders im Regiment Lord Lovats aufgeführt waren. Dieses Regiment hatte man erst gegen Ende des Feldzugs in den
Kampf geschickt, um das Versprechen, das der Lord den Stuarts gegeben hatte, zu erfüllen.
Claire hingegen hatte behauptet, daß diese Männer alle von einem kleinen Gut namens Broch Tuarach stammten, das im südwestlichen Winkel der Fraser-Ländereien lag, eigentlich sogar an der Grenze zum Gebiet des MacKenzie-Clans. Und diese Männer hatte sich der Armee der Highlander schon fast zu Beginn des Feldzugs angeschlossen.
Roger schüttelte den Kopf. Dies alles ergab keinen Sinn. Möglicherweise hatte sich Claire in der Zeit geirrt. Aber bestimmt nicht im Ort. Wie konnte es passieren, daß die Männer des kleinen Gutes Broch Tuarach, die dem Oberhaupt des Fraser-Clans keinen Treueid geleistet hatten, von Simon Fraser in den Kampf geschickt wurden? Gewiß, Lord Lovat war als »der alte Fuchs« bekannt, und das mit gutem Grund. Aber Roger bezweifelte, daß er über die nötige Durchtriebenheit verfügte, solch einen Schachzug zu planen und durchzusetzen.
Kopfschüttelnd ließ er den Motor an und fuhr los. Das Archiv des Culloden House hatte sich als enttäuschend unvollständig erwiesen. Zum größten Teil bestand es aus anschaulichen Briefen von Lord George Murray, der sich über Versorgungsengpässe ausließ, und aus all den Dingen, die sich Touristen gern in Schaukästen ansehen. Aber ihm reichte das nicht.
»Ruhe bewahren, Alter«, mahnte er sich, während er beim Abbiegen in den Rückspiegel blickte. »Du sollst herausfinden, was mit denen passiert ist, die bei der Schlacht von Culloden nicht ins Gras gebissen haben. Ist doch egal, wie sie dahin gekommen sind, solange sie das Schlachtfeld unversehrt verlassen konnten.«
Doch die Frage ließ ihn nicht mehr los. Dazu waren die Umstände auch zu außergewöhnlich. Es passierte immer wieder, daß man Namen verwechselte, besonders in den Highlands, wo die Hälfte der Bevölkerung immer und zu jeder Zeit »Alexander« getauft wurde. Männer waren daher neben dem Nachnamen in erster Linie unter dem Namen ihres Clans oder ihres Herkunftsorts bekannt. Und manchmal ersetzte das sogar den Nachnamen. »Lochiel«, einer der berühmtesten
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