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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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    Antreten zum Appell
    Roger Wakefield stand mitten im Raum und fühlte sich umzingelt. Zu Recht, wie er meinte, denn um ihn herum standen Tische voller Nippes und Zierat und schwere viktorianische Möbel, die verschwenderisch mit Plüsch, Schonbezügen und Decken ausgestattet waren. Auf dem gewachsten Holzboden lagen kleine handumsäumte Läufer, die nur darauf warteten, unter einem vertrauensvoll daraufgesetzten Fuß davonzurutschen. Gleich diesem gab es elf weitere Zimmer voller Möbel, Kleider und Papiere. Und dann noch die Bücher - mein Gott, die Bücher!
    An den Wänden des Studierzimmers standen Regale, die mit Büchern vollgestopft waren. Im übrigen Haus sah es nicht viel anders aus. Auf jeder horizontalen Fläche stapelten sich Bücher und Zettel, und jeder Schrank war bis zum Bersten gefüllt. Sein verstorbener Adoptivvater hatte sich eines langen, erfüllten Lebens erfreut. Und in seinen mehr als achtzig Lebensjahren hatte Reverend Reginald Wakefield niemals etwas fortgeworfen.
    Roger zügelte den Impuls, davonzulaufen, in seinen Mini Morris zu springen, nach Oxford zurückzufahren und das Haus samt Inhalt dem Wetter und den Vandalen auszuliefern. Ruhe bewahren, ermahnte er sich und holte tief Luft. Du wirst schon damit fertig. Die Bücher sind noch der leichtere Teil; du mußt sie lediglich durchsehen und jemanden rufen, der sie abholt. Zwar würde dieser Jemand einen Lastwagen mit dem Fassungsvermögen eines Güterwaggons brauchen, aber es wäre zu schaffen. Die Kleider sind auch kein Problem - die gehen an die Wohlfahrt.
    Roger hatte keine Vorstellung davon, was die Wohlfahrt mit Unmengen von schwarzen Sergeanzügen aus der Nachkriegszeit anfangen würde, aber vielleicht waren die Bedürftigen ja nicht besonders wählerisch. Schon fühlte er sich etwas erleichtert. Er
hatte an der Historischen Fakultät von Oxford einen Monat Urlaub genommen, um den Haushalt des Reverend aufzulösen. Doch immer wieder überfiel ihn das Gefühl, er würde für diese Aufgabe Jahre brauchen.
    Er trat näher an einen der Tische heran und nahm ein Porzellanschälchen in die Hand. Darin befanden sich unzählige kleine Vierecke aus Blei, »Gaberlunzies«, die im achtzehnten Jahrhundert von den Pfarreien an die umherziehenden Bettler quasi als Lizenz ausgegeben wurden. Neben der Lampe stand eine Sammlung von Steingutkrügen und davor eine in Silber gefaßte Schnupftabakdose aus Horn. Ob er dies alles an ein Museum geben sollte? Da der Reverend in seiner Freizeit ein begeisterter Geschichtsforscher mit einer Vorliebe für das achtzehnte Jahrhundert gewesen war, stieß man im Haus überall auf Gegenstände aus der Zeit der Jakobiten.
    Ohne sich dessen bewußt zu sein, strich Roger mit der Fingerspitze über die Dose und fuhr die dunklen Linien der Inschrift nach - Namen und Lebensdaten der führenden Mitglieder der Schneidergilde von Edinburgh anno 1726. Vielleicht sollte er einige ausgewählte Stücke aus der Sammlung des Reverend behalten... doch dann entschied er sich mit einem resoluten Kopfschütteln dagegen. »Vergiß es, Dummkopf«, sagte er laut. »Das wäre der sichere Weg in den Wahnsinn.« Oder das Anfangsstadium eines Lebens als Packratte. Wenn er damit anfing, ein paar Dinge aufzubewahren, würde er irgendwann alles behalten und schließlich in einem Ungetüm von Haus wie diesem wohnen, umgeben vom Plunder von Generationen. Und Selbstgespräche führen.
    Bei dem Gedanken an den ererbten Nachlaß fiel ihm wieder die Garage ein, und aller Mut verließ ihn. Der Reverend war eigentlich Rogers Großonkel. Nach dem Tod von Rogers Eltern im Zweiten Weltkrieg - seine Mutter war bei einem Bombenangriff der Deutschen, sein Vater im Luftraum über dem Ärmelkanal ums Leben gekommen - hatte ihn der Onkel adoptiert. Da er nun einmal nichts wegwerfen konnte, hatte der Reverend den gesamten Nachlaß von Rogers Eltern in Kisten und Kartons gepackt und in seiner Garage gestapelt. Roger wußte, daß seit zwanzig Jahren keine dieser Kisten mehr geöffnet worden war.
    Als Roger sich vorstellte, wie er sich durch den Nachlaß seiner Eltern wühlte, stieß er einen biblischen Seufzer aus. »O Herr«, stöhnte er. »Laß diesen Kelch an mir vorübergehen!«

    Obwohl die Bemerkung keineswegs als Stoßgebet gemeint war, klingelte wie zur Antwort die Türglocke, so daß er sich überrascht auf die Zunge biß.
    Wie immer bei feuchtem Wetter klemmte die Haustür, und als Roger sie endlich quietschend aufgestemmt hatte, sah er sich einer Dame

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