Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
Tod eines Klavierspielers
Gott, wie konnte ich nur. Sie hatte es so vor sich hin gesagt, laut, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der Taxifahrer drehte sich zu ihr um und überlegte, ob diese Dame eine von denen sei, die ihm gleich die Sitze voll kotzen würde.
Vera schnaubte, als sie seinen Blick sah. Ihr Magen war stabil. Wenn sie sich auf alles so verlassen könnte wie auf ihn. Kopf und Herz waren längst nicht derart verlässlich.
»Ich habe lange nicht mehr gesungen«, sagte Vera, »ich tue es nur noch, wenn ich zu viel getrunken habe.«
Der Taxifahrer beugte sich über das Lenkrad mit Lammfell und gab Gas. Die nächste Kreuzung nahm er bei Rot.
»Der Pianist war wunderbar«, sagte Vera Lichte. Dann lehnte sie sich an die Seitenscheibe und guckte die Tropfen an, die dort zerliefen. Der Regen war heftiger geworden. Auf der Krugkoppelbrücke spritzte das Wasser aus den Pfützen, als das Taxi zu schnell darüberfuhr. Vera gelang nur ein kurzer Blick über die Alster. Ganz hinten glitzerte der Jungfernstieg.
»Ich möchte gerne ganz langsam vorfahren«, sagte sie, »dann kann ich huldvoller winken.«
Der Fahrer hielt sie nun für sehr betrunken. Er war kein Mann mit Humor. Schon gar nicht um vier Uhr morgens bei Regen. Doch sein Eindruck von dieser nicht mehr ganz jungen Dame wurde vom Trinkgeld gemildert, von dem Vera gern viel gab. Ihr gelang auch ein eleganter Ausstieg aus dem Auto, nur den Pashmina zog sie zu lässig hinter sich her, der untere Teil des Schals wies schon dunkle nasse Flecken auf, als sie leichten Schrittes die Stufen zu der breiten Eichentür des Jugendstilhauses hochstieg. Erst in dem alten Aufzug, der mit ihr in den vierten Stock hochruckelte, wurde ihr ein wenig schlecht. Die Wohnungstür war kaum ins Schloss gefallen, da schleuderte sie die Schuhe von sich und ließ sich auf das korallenrote Sofa fallen, das zu keinem anderen Zweck in der großen Diele stand, als die Nachtvögel aufzunehmen, die es kaum noch ins Bett schafften. Veras Vater hatte das Sofa vor vierzig Jahren dorthin stellen lassen.
Der Mensch wird oft überlebt von seinen Sachen. Gustav Lichte war schon lange tot.
»Gott, wie konnte ich nur«, sagte Vera. Sie hatte sich auf dem Flügel des Pianisten gefläzt, als sei sie Michelle Pfeiffer. Ein Wunder, dass sie in dieser Lage noch Töne hervorgebracht hatte. Wenigstens auf das letzte Lied hätte sie verzichten sollen. But my Heart belongs to Daddy. Das war ein Lied für kleine Kätzchen. Sie war zu groß gewachsen dafür.
Vera seufzte. Achtunddreißig Jahre alt und immer noch keinen besseren Kerl gefunden als den eigenen Vater. Wenn auch der Pianist ihr einen Stich ins Herz versetzt hatte wie schon lange kein anderer mehr.
Vera erhob sich und ächzte. Alle Leichtigkeit war dahin. Die Whiskys schienen in ihren Füßen angekommen.
Sie löschte das Licht in der Diele und ging in den dunklen Schlauch hinein, auf das kleine Licht am Ende des Ganges zu, ihre Nachttischlampe, die sie immer anschaltete, wenn sie die Wohnung verließ, egal wie hell der Tag dann noch war.
Ein schrilles Geräusch ließ sie zusammenfahren. Es klang, als sei eine Klaviersaite gerissen. Zerfetzte der Verrückte nebenan jetzt seinen Bösendorfer? Ein schönes Instrument. Er hatte es ihr gezeigt. Aber freiwillig würde sie keinen Schritt mehr in die Wohnung ihres Nachbarn tun. Vera hatte ein Herz für Exzentriker, doch dieser war pathologisch.
Als kleines Kind hatte sie geglaubt, alle Menschen, die Klavier spielten, seien gut. Gustav Lichte war Komponist gewesen.
»Viel zu lange Zeit gehabt, ihn zu verklären«, sagte Vera.
Immer wenn sie betrunken war, schwappte eine große Woge Sentimentalität in ihr hoch.
»Wäre uns schon längst an den Hals gegangen, wenn er noch lebte, der alte Gustav«, sagte Vera.
War ja sonst keiner da, der was laut sagte in dieser großen Wohnung mit zwei Balkonen vorne und Wintergarten hinten.
Vera Lichte ließ die Kleider fallen und stieg in seidener Unterwäsche ins breite Bett. Morgen würde sie versuchen, ein ordentlicher Mensch zu werden. Sie löschte die Lampe und lauschte in den frühen Tag. Kein Ton mehr aus der Wohnung nebenan. Auch die Vögel sangen noch nicht.
»Verakind«, sagte Anni Kock und beugte sich über sie, um den Atemzügen zuzuhören, als fürchte sie, Vera könne am plötzlichen Kindstod gestorben sein. Doch der Geruch von Alkohol sprach eigentlich dagegen. Vera schlug die Augen auf, unter denen die übernächtigte Wimperntusche schwarze
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