Die gelöschte Welt
Mörserfeuer taub geworden bin, da ich anscheinend nur noch meine eigene Stimme hören kann. Ich lasse den Motor hochdrehen und lausche. Es ist sehr laut. Und dann endlich sind die Feinde da. Wenn ich je eine Bestätigung gebraucht hätte, dass dies kein normaler Krieg ist, dann bekomme ich sie jetzt. Die Feinde sind keine Menschen. Es sind Schatten. Eine Realität gewordene Vision von der anderen Seite.
Die Schatten sind überall. Sie tauchen aus dem Rauch auf, verschmelzen miteinander, verblassen und erscheinen abermals. Ich sehe Augen und höre ein Keuchen, dann fallen harte Worte, und zwar in der Sprache des Feindes (es ist keine Sprache, die ich erkenne, vielleicht ist es nicht einmal eine richtige Sprache, sondern nur ein Lärm, den die Widersacher eben von sich geben). Bolzen klicken, Waffen werden durchgeladen, dann zerfetzt ein Kugelhagel den Jeep. Ich muss dahinter in Deckung gehen, halte mich an meiner äußerst nutzlosen Pistole fest und rechne nun damit, endlich und endgültig erschossen zu werden.
Ich werde aber nicht erschossen. Der Jeep wird förmlich zersiebt. Ronnie Cheung würde den Kopf schütteln und erklären, das Ding sei völlig und unwiderruflich hinten herum perforiert, mein Junge, und sage mir nicht, dass es auch andere Stellen gibt, an denen etwas perforiert werden kann, denn ich bin ein alter, böser Mann, und wenn ich sage, dass es noch weitere und üblere Arten gibt, etwas zu perforieren, dann glaubst du mir das und wirst darum beten, dass ich es nicht weiter erkläre, ist das klar? Dann nähern sie sich.
Sie sind vorsichtig und haben es nicht eilig. Gleich werden sie mich entdecken. Sie hüpfen herbei, überholen einander, verharren einen Herzschlag lang in Deckung und springen weiter. Ich weiß das, weil ich ihre Schritte höre – es klackert und schlurft, wenn sie die Position nacheinander wechseln. Vielleicht verschonen sie mich, wenn ich unbewaffnet bin, aber meine Hand will die Pistole nicht loslassen, weil es ebenso gut möglich ist, dass sie mich abschlachten, wenn ich unbewaffnet bin. Der Jeep quietscht, als wäre jemand hineingestiegen, das Messer löst sich flüsternd aus der Scheide. So wird es also geschehen. Ich erkenne einen Schatten vorm Himmel, der Schatten blickt herab. Ich habe keine Deckung. Er greift an.
Auf einmal mischt sich Jim Hepsobah mit seinem .50er BMG ein. Mir ist schleierhaft, wie er hergekommen ist und wie sie mich gefunden haben; allerdings ist dies die Hauptstraße, die sie benutzen müssen, wenn sie hinauswollen. Aber warum sie gerade in diesem Augenblick an diesem Ort auftauchen, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Er steht auf der Waffenplattform des Geländewagens, in dem Leah und ich zu unserem Stelldichein gefahren sind. Neben Jims Geländewagen kommt Baptiste Vasille mit einem kleinen Panzer, und er und der knochige Kerl, den ich noch aus meiner Zeit als Sanitäter kenne, streiten sich gerade darüber, ob er besser oder schlechter ist als ein französischer TV-9, was sie aber nicht davon abhält, die ganze Gegend gründlich mit echt freundlichem Feuer einzudecken und mir einen Weg freizuschießen. Vor ein paar Jahren wäre diese Art der Rettung noch illegal gewesen. Ein .50er BMG gegen menschliche Ziele einzusetzen, verstößt gegen die Genfer Konvention, denn man muss die Leute mit so einem Ding auf ehrbare Weise umbringen und auf ihre Fahrzeuge schießen, bis sie explodieren. Dagegen war es ein Kriegsverbrechen, ihnen einfach einen Kopfschuss zu verpassen. Dieses charmante Stück altmodischer Ritterlichkeit wurde aus den Büchern gestrichen, als ich noch in Jarndice war – genau genommen war diese Streichung eine der Maßnahmen, gegen die ich protestierte, woraufhin mich Georges Lourdes Copsen (gefallen) detailliert auf dem elektrischen Stuhl befragte. Jetzt bin ich froh, dass die Luft vor unzivilisierten .50er-Geschossen summt. Denn ohne sie wäre ich tot.
Die Schattenmänner kippen um oder springen in Deckung. Annie der Ochse fährt Jims Geländewagen, Gonzo hat den zweiten übernommen. Leah ist bei ihm und hält sich an einer Schrotflinte fest. Sie erledigt ein paar böse Buben und schneidet ein grimmiges Gesicht, und ich könnte für einen Augenblick schwören, dass sie Engelsflügel hat. Meine Geliebte, meine wilde, gefährliche Frau. Einer von uns sollte gefährlich sein. Ich bin so stolz, dass sie es ist.
Egon Schlender springt heraus und zieht mich hoch. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich verletzt bin. Ich betrachte mein Bein
Weitere Kostenlose Bücher