Die gelöschte Welt
und verspüre einen Moment lang eine verrückte Hoffnung, aber ich wurde auch dieses Mal nicht angeschossen. Ein schmaler Dorn ragt aus mir heraus, und nach dem hässlichen vernehmbaren Knirschen zu urteilen, das von ihm ausgeht und durch meine Hüfte und bis ins Knie hinunter ausstrahlt, steckt das verdammte Ding am Knochen fest. Diese gemeine Waffe gehört zur Standardausrüstung von Gonzos Truppe. Sie besteht aus Keramik, einem Material, das von Röntgenstrahlen nicht so leicht entdeckt wird. Jeder Kämpfer kann sich vier oder fünf davon an den Oberschenkel schnallen und damit nach passenden Zielen werfen. Sie fliegen schnurgerade und durchschlagen sogar Schutzwesten, weil die scharfe Spitze das Kevlargewebe durchdringt und die Klinge die Fäden durchschneidet, statt sich wie eine Kugel beim Einschlag zu verformen. Skrupellose Zeitgenossen, die eher auf zivile Opfer denn aufs Gefecht aus sind, vergiften die Zacken. Aber da ich noch lebe, kann ich annehmen, dass dies nicht auf das Stück zutrifft, das gegenwärtig einen Lagerplatz in meinem Oberschenkel beansprucht.
Egon packt mich in den Geländewagen und ruft Jim zu, wir müssten irgendwohin fahren, damit er die Leute behandeln kann. Jetzt erkenne ich auch, dass fast alle auf die eine oder andere Weise verletzt sind: Jm hat eine Schnittwunde in der Seite, Annie hat ihren Arm notdürftig geschient, Egon Schlender hat eine eilig genähte Wunde auf der linken Wange. Das überrascht mich nicht; es scheint, als hätte die Luft selbst das Feuer auf uns eröffnet. Ich drehe mich zu Leah um und bete zu Gott – aber sie hat nur ein paar Kratzer und Prellungen und wirkt gleichzeitig ausgesprochen sauer und verängstigt. Sie untersucht mein Bein, verpasst mir eine örtliche Betäubung, und dann gibt es einen hellen Blitz, als sie den Dorn herauszieht. Die Schmerzen spüre ich eigentlich nicht, aber mir ist bewusst, dass etwas Fremdes aus meinem Beinknochen gezogen wird und dass längst nicht alle Nerven im Schlaf liegen. Sie erwischt einen auf dem Weg nach draußen, und ich sage etwas Männliches, wie etwa autsch oder Mamma mia. Sie flickt mich mit Sekundenkleber (genau dazu ist der Sekundenkleber nämlich da) und wickelt das Bein mit einem Stück Hemd von jemand anders ein. Ich liebe sie mehr denn je.
Gonzo fährt mit uns aufs Land hinaus, und je weiter wir uns vom Lager entfernen, desto mehr lassen die Kämpfe nach. Wir fahren immer weiter, es ist neblig und kühl, unter uns summen die Reifen, der Motor läuft rund, und auf der Straße ist nicht viel los. Irgendwann halten wir, und die Leute wechseln die Plätze, um etwas Ruhe zu bekommen. Leah sinkt an meine Schulter und schläft ein wie ein Kind. Ich gebe Annie dem Ochsen meinen erbeuteten Kompass. Sie starrt mich an, als hätte ich einen Zaubertrick vorgeführt. Dann grinst sie. »Oh verdammt«, sagt sie und nickt. »Nicht schlecht. Gar nicht schlecht.« Sie zaust mir das Haar. Wir fahren weiter. Früher oder später muss jemand sagen: »Was, zum Teufel, war das denn?« Aber so weit ist es noch nicht. Es gibt eine stumme Übereinkunft, dass wir dies noch eine Weile ruhen lassen. Gonzo gestattet sich keine Pause, er ist zu angespannt.
Eine Weile später fahren wir langsamer, weil Annie etwas am Straßenrand bemerkt hat, auf das sie uns aufmerksam machen will. Wir bremsen und halten an, Jim Hepsobah steht wachsam in der Nähe, aber hier ist niemand. Aus der Ferne beobachten wir eine Familie im Gänsemarsch. Aus der Nähe sind es Baumstümpfe, Erdhaufen und der Nebel. Wir haben sie sogar gehört, im Wind sogar einen Hauch von Schweiß und Lazarett gewittert. Aber sie sind fort. Vielleicht haben sie nie existiert.
Das nächste Mal bemerkt Jim Hepsobah etwas. Eine Kolonne unserer eigenen Leute, die mutlos nach Westen trotten. Sie sind verschwunden, ehe er anhalten kann. Eine optische Täuschung.
Wieder etwas später tauchen Soldaten auf. Wir halten an, um einer einsamen Frau mit einem Kind zu helfen, die sich als schlanker Junge mit einem Bündel Reisig entpuppt, der aufreizend und komisch mit den Hüften wackelt. Er verschwindet im Wald, ruft Beschimpfungen herüber, und dann fliegen die Kugeln. Es ist nur eine Kleinigkeit, ein Moment des Schreckens und beinahe auch des Zorns. Jemand schießt auf uns. Das ist gemein. Wir schießen zurück, bis sie aufhören, dann fahren wir weiter.
Schließlich setzt sich blitzschnell ein Jeep neben uns. Eine einsame schlanke Gestalt in Tarnkleidung, die vor Kälte schaudert, sitzt
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