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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Sturm. Etwas zischt an meinem Kopf vorbei, ich schlage danach und denke erst hinterher, dass es ein Querschläger war. Deshalb lasse ich mich auf den Bauch fallen und krieche vorschriftsmäßig (nicht mit den Knien, nur mit den Unterarmen und Füßen) in Deckung, obwohl jede Deckung unbrauchbar ist, wenn der Angriff aus allen Richtungen zugleich zu kommen scheint. Ich komme gut voran. Bei diesem Tempo werde ich mein Ziel vielleicht in einer Stunde erreichen. Neuer Plan. (Die Leute brüllen, irgendwo wird ein Schrei derart schrill, dass es mir den Magen umdreht und mir die Haare zu Berge stehen. Jemand ruft: »Feindkontakt«, und vielleicht noch etwas anderes, das ich nicht verstehen kann. Ich bin nicht einmal sicher, ob es ein Mann oder eine Frau ist.)
    Während ich krieche, zerbricht die Szene in zahlreiche Einzelbilder. Blitzartig sind Überleben oder Tod beleuchtet. Ich haste gebückt weiter und bewege mich dann sogar in einem ängstlichen Dauerlauf, um Freunde oder meinetwegen auch bekannte Feinde zu finden. Irgendjemand anders außer Carsville dem Herrlichen, der an mir vorbeirennt und sich mit einem Küchenmesser, das er als Bajonett an ein Sturmgewehr gebunden hat, in den Nebel stürzt. Ihm ist offenbar egal, dass sich die Klinge schon beim ersten Einsatz lösen und am Lauf herunterrutschen wird, ohne dem Opfer großen Schaden zuzufügen. Dafür wird das Klebeband die Funktionstüchtigkeit seiner Waffe beeinträchtigen, bis sie ihm direkt vor dem dummen, hübschen Gesicht explodiert. Natürlich denkt er nicht an so etwas, weil solche Dinge den Helden auf dem Bildschirm nicht passieren. Carsville verschwindet, und gleich darauf ertönt im Nebel eine mächtige Explosion – die aber leider nicht ihn getroffen hat, denn er stürmt sofort wieder heraus, läuft jubelnd weiter und freut sich auf Medaillen und Ruhm, weil er sich endlich in einem echten Kampf bewähren kann.
    Etwas Irrealeres habe ich wohl im ganzen Leben noch nicht gesehen. Ich stoße mit dem Fuß gegen ein Hindernis. Ein Toter, den ich nicht kenne. Er kommt mir wie eine Requisite vor – Leiche Nummer acht, Augen geöffnet, beinahe friedlich lächelnd. Ebenfalls im Angebot: Leiche Nummer neun, Augen geschlossen, Gliedmaßen weit gespreizt; Leiche Nummer zehn, Kopfwunde, bandagiert. Er hat den Schlüssel eines Jeeps in der Hand. Ich schnappe ihn mir. Seine Muskeln sind schlaff, weil er gerade erst gestorben ist – vielleicht in dem Augenblick, als ich auf ihn getreten bin. Mit dem Jeep bin ich ein größeres Ziel, aber ich bin auch schneller. Wo steht er? Der Tote hatte die Schlüssel in der Hand, also muss das Fahrzeug in der Nähe sein. Ich sehe mich um. Dort. Der Wagen stand neben einem Zelt, das zerschossen wurde, jetzt halb über dem Jeep liegt und ihn teilweise verbirgt. (Napoleon pflegte seine Soldaten zu fragen: »Haben Sie Glück?« Ja, mon Empereur, das habe ich, und ich hoffe, dass es so bleibt.) Ich steige in den Jeep und trete das Gaspedal durch. Er bockt, fast geht der Motor aus, dann dreht er hoch, und wir rasen davon. Beinahe hätte ich ihn getätschelt wie den Hals eines braven Pferdes. Schleudernd fahre ich zwischen Feuern hindurch und über Leichen hinweg (jedenfalls hoffe ich, dass es Leichen sind). Zweimal muss ich scharf abbiegen, um einer Gewehrsalve aus dem Nichts auszuweichen. Dann bin ich da.
    George Copsen sitzt dort, wo er immer sitzt, und zeigt das gewohnte Plastiklächeln. Seine Dienstwaffe hat er in der Hand. Er scheint fast unverändert, nur dass er tot ist. Er hat seinem eigenen Leben ein sauberes, effizientes und irgendwie auch sanftes Ende gesetzt, als wollte er möglichst wenig Dreck hinterlassen. Das ist ihm ganz gut gelungen, wenn man es recht bedenkt. Er ist noch warm, aber höchstens so lauwarm wie Kaffee, der schon eine Stunde steht, und nicht wie ein Mensch, in dem noch etwas Leben sein könnte. Er riecht nach Pfeffer. Ich betrachte ihn und sehe mich dann in der Nähe um. Carsville hat eine kleine Truppe von Männern zusammengetrommelt, die so verängstigt sind, dass sie ihm tatsächlich zutrauen, er wüsste, was er tut. Sie greifen die Schatten an, hin und wieder dreht sich einer von ihnen um sich selbst, nachdem er die Hälfte oder zwei Drittel seines Gesichts verloren hat, woraufhin die anderen vor Wut brüllen und den Schützen verfolgen. Vielleicht zielen die feindlichen Scharfschützen nicht auf Carsville, weil er es ihnen so leicht macht. Vorausgesetzt, es sind überhaupt Scharfschützen. Die Kugeln

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