Die gelöschte Welt
wenn sie so heruntergekommen ist wie die unsere, und den Insassen zu sagen, sie sollten sich ordentlich benehmen, weil sie sonst mit Konsequenzen rechnen müssten. Genau das hat er vor, und er weiß – genau wie wir –, dass die Konsequenzen vor allem darin bestehen, dass er sehr streng wird und sein Kommandant uns womöglich noch eine Standpauke hält. Vielleicht, überlege ich mir, kommt auch eine blonde Zivilistin mit schmalem Gesicht heraus und stampft mit dem Fuß auf – aber Elisabeth ist nirgendwo zu entdecken. Ich hoffe, sie ist schon zu Hause.
»Wer, zum Teufel, seid ihr denn?«, will der UN-Mann wissen.
»Wir sind ein Wanderzirkus«, gibt Gonzo kalt zurück. »Ich bin die bärtige Dame, und die hier«, er deutet auf Jim Hepsobah, Sally und mich, »das sind meine Clowns.« Der UN-Soldat hält nicht viel davon.
»Na schön«, sagte er. »Dann will ich mit eurem Chef sprechen.« Gonzo sagt, das sei ebenfalls er.
»Kehrt um«, befiehlt der UN-Soldat. »Ungefähr sechs oder sieben Fahrstunden entfernt gibt es einen befestigten Stützpunkt. Die können euch besser helfen als wir.«
»Wir müssen evakuiert werden«, erwidert Gonzo. »Ihr übrigens auch.«
»Kehrt um«, wiederholt der UN-Soldat. Gonzo schwillt der Kamm, er ist ausgesprochen wütend und kurz davor, dem Mann eingehend zu erklären, wie er sich gerade fühlt, als das Tor aufschwingt und der zweite UN-Soldat uns hineinwinkt. Unser Mann zieht eine empörte Grimasse und macht Platz. Gonzo grinst ihn zum Abschied an, und wir fahren fröhlich an ihm vorbei durchs Tor, während er hinter uns herschlurfend auf seinen Posten zurückkehrt. Wir achten aber kaum noch auf ihn, weil wir erst jetzt erkennen, wie tief wir in der Tinte sitzen. Sobald wir drinnen ausgestiegen sind, tauchen aus den niedrigen Gebäuden Soldaten auf, die ganz sicher nicht zur UN gehören, und richten ihre Waffen auf uns. Im Gegensatz zu George Copsens Rollkommando in Jarndice machen sie sich nicht einmal die Mühe, uns zu erklären, dass wir Gefangene sind, weil die Situation ohnehin für sich selbst spricht. Nachdem sie uns gründlich abgeklopft und entwaffnet haben, bringen sie uns zu ihrem Anführer. Vasille schneidet eine Grimasse: merde.
Ruth Kemner.
Sie hat die kleine Abflughalle mit Beschlag belegt. Es ist ein hoher Raum mit schmalen, senkrechten Milchglasscheiben, die zwar ausreichend Licht einlassen, aber die grelle Sonne ausfiltern sollen. Neben der Tür erstreckt sich ein ramponiertes Gepäckband, aber die größte Attraktion entdecke ich am anderen Ende unter dem Schild mit der Aufschrift Abflug in zahlreichen Sprachen. Dort hinten stehen Männer wie bei einer Parade und präsentieren ihre Waffen. Ein von Mottenfraß durchlöcherter roter Teppich liegt auf dem Boden, aus ein paar Brettern hat jemand ein Podium gebaut. Das Ganze sieht wie der Audienzsaal eines Monarchen aus. Eindeutig eine Wende zum Schlechten.
Ruth Kemner sitzt auf einem Thron. Verglichen mit anderen macht er aber nicht viel her. Es handelt sich um den Pilotensitz eines Kampfhubschraubers, den jemand in einen Metallrahmen geschweißt und mit Leopardenfellen bedeckt hat, die wahrscheinlich nicht einmal von einem echten Leoparden stammen. Dieses Bild erinnert mich an die Filme aus den Siebzigerjahren, in denen Kriegerfrauen, dargestellt von badenden Schönheiten, eine Gruppe männlicher Schiffbrüchiger fangen und hinzurichten drohen, bis sie schließlich in seligem Vergessen in den Armen der tapferen Männer mit den markanten Gesichtern dahinschmelzen. Echte Männer halten nämlich nichts von sapphischem Unfug, sondern wissen, dass jedes anständige Mädchen eine feste Hand braucht. Es ist einfach lächerlich.
Wahrscheinlich weiß sie es selbst und hat aus diesem Grund ihren Thron mit zwei abgetrennten Köpfen dekoriert, um allen deutlich zu machen, dass nicht mit ihr zu spaßen ist. An ihren Augen ist nichts Ungewöhnliches, aber das Gesicht, zu dem sie gehören, dieses Geflecht kleiner Muskeln, die willkürlich und unwillkürlich benutzt werden, um etwas auszudrücken und Stimmungen mitzuteilen, verrät mir, dass sie gefährlich und psychotisch ist. Sie beugt sich vor und dreht den Kopf langsam herum, damit wir die Stelle betrachten können, wo jemand sie mit dem Messer angegriffen hat. Offenbar wollte ihr der Betreffende die Kehle durchschneiden, ist jedoch gescheitert. Eine lange Narbe zieht sich über die Wange. Die Wunde muss zwar schmerzhaft gewesen sein und stark geblutet haben, wirkt
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