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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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ihrer Kontrollsphäre befindet. Im Tower sitzt ein Scharfschütze. Diese Männer tun nicht nur so, als wären sie wachsam. Sie passen wirklich so auf, wie es nur Leute tun, die vor Kurzem angegriffen wurden und mit neuen Angriffen rechnen. Sie rechnen nicht nur von außen mit Angriffen, sondern auch von innerhalb des Corvid's Field, das doch eigentlich eine von ihnen selbst gesicherte Zone sein sollte. Sie haben die Finger am Abzug, sie sind angespannt und sogar etwas nervös. Anders ausgedrückt: Ihnen hat jemand einen gehörigen Schrecken eingejagt. Diese Information ist einiges wert, aber ich vergesse sie wieder, als wir uns unserem Ziel nähern. Mein Magen verkrampft sich, und meine Nackenhaare sträuben sich, als wäre mir eine Spinne über die Lippen gewandert. Das Corvid's Field wurde von einer Löschungsbombe getroffen. Eigentlich sollte der Flugplatz kein Ziel sein – jedenfalls war er keines unserer Ziele. Andererseits aber besteht im Krieg immer ein Unterschied zwischen dem, was als Ziel gilt, und dem, was dann tatsächlich in die Luft gejagt (oder entfernt) wird. Neben der Landebahn und von der Zufahrtsstraße her durch den Tower verdeckt, klafft ein Loch mit glatten Wänden, die so aussehen, als wären sie auf einen Schlag mit einer sehr großen, gekrümmten Schaufel ausgehoben worden. Ein großes Waldstück und die Hälfte eines hölzernen Nebengebäudes sind ebenso verschwunden wie das Heck einer Frachtmaschine. Das Flugzeug ist etwas zurückgerollt oder wurde zurückgeschoben und steht jetzt wie ein offener Korridor vor dem Loch. Im Gegensatz zu allen anderen, die ich bisher gesehen habe, ist dieses Loch aber nicht leer. Im Zentrum quillt Wasser hervor, oder es ist etwas, das Wasser sehr ähnlich ist – silbrig, geschmeidig und voller Blasen. Vom Mittelpunkt gehen kleine Wellen aus, und über der Oberfläche weht ein feiner Dunst, in dem alle möglichen verrückten Formen wie Riesen oder verdrossene Gesichter erscheinen.
    Es riecht komisch. Ein so großer See sollte eigentlich nach warmem Wasser riechen. Selbst wenn es nur ein Rohrbruch oder (nicht ganz so appetitlich) ein zerstörter Abwassertank ist, müsste es doch dementsprechend riechen. Ich werfe einen kurzen Blick zu Kemner und denke über Flugbenzin oder Chemieabfälle nach – es würde gut zu ihrem neuen Erscheinungsbild passen, hinter ihrem Thron einen gezähmten Feuersee zu unterhalten. Aber auch danach riecht es nicht. Es riecht nach überhaupt nichts – und doch ist eine große Menge irgendeiner Flüssigkeit zusammengelaufen und blubbert direkt vor uns. Ob der Einschnitt eine natürliche Quelle von destilliertem Wasser freigelegt hat? Oder ist es Sole? In der Mitte hebt sich die Seeoberfläche, eine gläserne Blase wächst und platzt. Die Flüssigkeit spritzt sechs Meter hoch. Gibt es in Addeh Katir geothermische Phänomene? Ich habe keine Ahnung. Solche Informationen waren nicht in der Einweisung enthalten, die wir bei der Ankunft bekamen. Jedenfalls beschleicht mich ein ungutes Gefühl, mal ganz abgesehen davon, dass wir uns in der Gewalt einer erstklassigen Verrückten befinden. Ein sehr tiefgründiges Oh verdammt auch regt sich in mir. Das Gefühl entsteht im Bauch und hat im wahrsten Sinne des Wortes eine existenzielle Qualität. Ich mache mir Sorgen um meine Existenz.
    Kemner winkt, und Carsville erscheint im Mittelgang des zerteilten Frachtflugzeugs. Er trägt eine Augenbinde, aber seine Arme und Beine sind frei. Piranhas, denke ich. Sie hat ein munteres Piranhavölkchen gefunden und will uns an die Fische verfüttern. Gibt es hier Piranhas? Ich habe keine Ahnung. Eigentlich stammen sie aus Südamerika, aber andererseits hätte es durchaus zu den Briten der Kolonialzeit gepasst, ein paar zu importieren, um die Gegend etwas interessanter zu gestalten. Ho, Sergeant Daliwal, wie beißen die Fische? Pukka, was? Haben Sie genug von der Ziege? Ich schwöre Ihnen, ich werde nie wieder Ziege essen … die Italiener essen Ziege, ja, aber die essen doch alles, wenn genug Knoblauch dran ist. Nur kämpfen können sie nicht, was? Die Qualität der Mannschaften, Sergeant Daliwal, nur darauf kommt es an. Sie wissen das ja selbst am besten, Sie haben sich schließlich freiwillig gemeldet. Was höre ich da? Anand hat schon wieder einen Finger verloren? Der Mann ist einfach zu leichtsinnig. Das sind doch Piranhas, keine Wellhornschnecken. Da fällt mir ein, dass so ein Mann vermutlich ein Vorfahr von Dr. Fortismeer gewesen wäre. Genau die

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