Die gelöschte Welt
jetzt aber sauber vernäht. Der Arzt hat auch die untere Hälfte ihres Ohrs wieder angesetzt, was aber nicht sehr gut gelungen ist. Als sie uns ansieht, ist ihr Kopf in der gleichen Stellung wie der Kopf Nummer zwei. Die Ähnlichkeit ist beunruhigend. Wenn Ruth Kemner keine Schwester hatte, dann hat sie eigens jemanden ausgesucht und ermordet, der ihr sehr ähnlich sah, um den Kopf für die Verschönerung ihres Throns zu benutzen. Eigentlich spielt es auch keine Rolle. Unverkennbar jedenfalls, dass Kemner völlig verrückt ist. Am anderen Ende des Raumes, beim alten Zeitschriftenkiosk, erscheint eine verhüllte, wütende Gestalt, die um sich schlägt, sich aufbäumt und brüllt, sie werde es allen noch zeigen, oder vielleicht auch, dass sie Gerechtigkeit und Freiheit verlangt. Als sie ihm die Kapuze abnehmen, kommt Ben Carsville zum Vorschein. Falls ihre Narbe sein Werk ist, so ist dies ein guter Beweis für die mächtige Kraft der Idiotie. Es erklärt auch, warum Kemner nicht tot ist, und prophezeit für den attraktivsten Soldaten im ganzen Kriegstheater ein böses Ende.
Carsville knirscht mit den Zähnen, erblickt den Thron und die Köpfe und erkennt möglicherweise auch die Parallele zu den Filmen, weil er einen schwachen Witz reißt. Ben Carsville ist natürlich genau der Typ, der das Herz sexuell frustrierter Amazonenköniginnen erobern könnte. Leider ist Kemner kein vollbusiges Flittchen mit einem Machtkomplex. Sie war eine durchaus geachtete Söldnerin (»freischaffende Militärberaterin«) am eher blutigen Ende des Spektrums. Was sie jetzt ist, nach den Ereignissen, die sich abgespielt haben, seit George Copsens rotes Telefon klingelte und den Beginn der nichtkonventionellen Feindseligkeiten in einer neuen Ära ankündigte, ist nicht ganz sicher.
Mit einer Art kalter Neugierde betrachtet sie Ben Carsville. Sein freches Auftreten verpufft wirkungslos. Sie versetzt ihm keine beleidigte und doch einladende Ohrfeige, sie starrt ihm nicht einmal aufgebracht in die Augen. Vielmehr beobachtet sie ihn mit einer Art wissenschaftlichem Interesse, als wäre er ein neues Exemplar, das einer Vivisektion unterzogen werden muss. Dann nickt sie ihren Handlangern zu. Sie heben Carsville knurrend auf, danach führt uns Kemner alle hinter die Abflughalle.
Wenn man einen Gefangenen mit gezogener Waffe abführt, gibt es etwas, das man auf keinen Fall tun sollte. Sie sollten ihn nicht mit dem Gewehrlauf stoßen. Jede Sekunde, die sie in körperlichem Kontakt mit dem Gefangenen verbringen, hilft ihm, Ihre körperliche Verfassung einzuschätzen, und außerdem, wenn er die Position des Laufs kennt, ist er Ihnen nahe genug, um Sie anzugreifen, bevor Sie abdrücken können. Der Sprung, mit dem olympische Schwimmer starten, dauert länger, als ein ausgebildeter Soldat braucht, um einen Gewehrlauf zur Seite zu stoßen, wenn er weiß, wo er ist. Ein Gewehr ist eine Waffe für eine mittlere Entfernung, nicht für den Nahkampf. Also geben Sie ihm nicht die Chance, die Situation zu seinen Gunsten zu verändern. Lassen Sie ihn nicht merken, wie entspannt oder angespannt Sie sind, und stoßen Sie ihn auf keinen Fall mit Ihrer Waffe, denn wenn Sie nur ein kleines Stück neben dem Zentrum liegen, lässt er sich von dem Lauf um die eigene Achse drehen, und das gefährliche Ende Ihrer Waffe zielt dann an ihm vorbei. So kann er Ihnen die Nase abbeißen oder Ihre Waffe benutzen, um den Mann vor Ihnen zu erschießen. Oder um eine ganze Reihe anderer Dinge zu tun, die der Disziplin im Gefängnis abträglich sind.
Kemners Männer sind gut ausgebildet. Sie halten genügend Abstand zu uns, erlauben uns nicht, uns zu unterhalten, und fallen auch nicht auf Tricks wie Stolpern, eine leichte Erhöhung oder Verminderung der Geschwindigkeit oder Bemerkungen über ihre Haare herein. Deshalb glauben sie, sie hätten uns nichts über sich selbst verraten, wenn man davon absieht, dass sie dazu fähig sind, uns alle zu töten, und nicht bereit, die Rollen zu tauschen. Darin irren sie sich. Ihre Aufstellung verrät eine Menge. Unsere Wächter haben sich in einem weiten Halbkreis hinter uns aufgestellt, damit sie uns ins Kreuzfeuer nehmen können, falls sie beschließen, uns niederzuschießen – das war zu erwarten. Ringsherum sind jedoch weitere Männer postiert, die nach außen blicken. Sie beobachten die Hügel und Bäume in der Umgebung und sind mit langläufigen Gewehren bewaffnet. Sie halten Ausschau und achten auf alles, was sich nicht unmittelbar in
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