Die Geometrie der Wolken
aufzusuchen.
Januar
1.
Der Prophet war ein Wissenschaftler namens Wallace Ryman. Er war ein Pazifist, der eine spezielle »Zahl« erarbeitet hatte, für die sich die Regierung im Zweiten Weltkrieg interessierte. Es gibt viele Zahlen, die nach großen Forschern benannt sind, meist definieren sie einen besonderen physikalischen Prozess. Die Mach-Zahl, die die Geschwindigkeit eines Objekts, das sich durch Luft bewegt, geteilt durch die Schallgeschwindigkeit, bezeichnet, ist wahrscheinlich die bekannteste.
Die Ryman-Zahl dagegen ist ein Kriterium für die Messung der Turbulenz von Wettersystemen und anderen Strömungen. Sie ist dimensionslos, was bedeutet, dass sie beliebig in Raum und Zeit als Vergleichskoordinate angewendet werden kann. Eine niedrige Ryman-Zahl (unter eins) bedeutet eine starke Turbulenz; eine höhere (über eins) weist auf einen typischeren, »stabilen« Zustand hin.
Bei diesen dimensionslosen Zahlen geht es immer um Informationen. Man braucht sie, um erhaltene Informationen zu beurteilen. In meinem Leben gab es einen Moment, in dem ich (um es kurz zu machen) möglicherweise einen wichtigen Einfluss auf die Geschichte nahm, als ich die Ryman-Zahl zu diesem Zweck anwendete. Dies geschah 1944 im Kontext der meteorologischen Vorbereitungen für die Operation Neptune, die erste Phase der Operation Overlord - oder, allgemein bekannter, den D-Day.
Im Winter jenes Jahres wurde ich von Sir Peter Vaward, dem Direktor des Meteorological Office, auf eine Spezialmission entsandt. Ich sollte von ihrem widerwilligen Entdecker erfahren, wie eine Reihe von Werten der Ryman-Zahl für die Invasion auf einen achtzig Kilometer langen Küstenabschnitt in Frankreich oder Belgien nutzbar gemacht werden konnte. Die Ryman-Zahl hat einen direkten Einfluss auf Wettervorhersagen, da Muster von Erwartung und Ungewissheit mit Turbulenz zusammenhängen.
Ryman lebte in Schottland. Sir Peter hatte mir einen Platz in einem Wettererkundungsflugzeug verschafft, das von London zum Flughafen Prestwick flog, der damals Glasgow bediente und den regen Luftverkehr aus Amerika abwickelte. Ich reiste Ende Januar ab, und Schnee fegte über den Flugplatz, als ich auf das Flugzeug (eine Halifax) zuging, deren Propeller sich bereits drehten.
In Ermangelung meteorologischer Informationen in Regionen, in denen der Feind operierte, gab es täglich eine große Anzahl solcher Erkundungsflüge in der Umgebung der britischen Inseln. Mein Flugzeug sollte seinen Flug von Prestwick nach Stornoway auf der Isle of Lewis fortsetzen, von wo es die BISMUTH-Patrouille Richtung Island fliegen sollte. Das Flugzeug gehörte zum Met Squadron 518 und hatte deren berühmtes Abzeichen auf die Nase gemalt - eine Faust, die einen Schlüssel hält, und darunter der Schriftzug
Thaan iuchair againnne,
was Gälisch ist für »Wir halten den Schlüssel«.
Was erwartete ich, als ich mit meinem Koffer in die Kabine stieg? Ahnte ich, was sich mir schon bald offenbaren sollte? Wie
fühlte
ich mich? Es ist sehr schwer, sich in all das wieder hineinzuversetzen. Es sprudelt nicht einfach alles hervor. Ich wusste damals oft nicht, wie ich mich fühlte; heute weiß ich oft nicht, was ich denke. Überhaupt nehmen wir viele unserer tiefsten Gefühle als zweifelnde, verworrene, gemischte Empfindungen wahr. Die Ereignisse selbst konditionieren unsere Sicht auf andere vergangene Ereignisse, so dass wir die Kausalkette neu bewerten, während wir uns an ihr entlanghangeln und spekulative Blicke auf ein Netz zukünftiger Möglichkeiten werfen ... So lebt man - so funktioniert das Bewusstsein.
Als wir gegen zehn Uhr abhoben, hatte ich noch den Geschmack der Baked Beans vom Frühstück auf der Zunge. Daran zweifle ich selbst nach all den Jahren nicht. Ich erinnere mich auch noch an die alte Werbung mit dem »Allzeit Bereit«-Slogan (damals wohl etwas patriotischer gemeint) und dem Bild eines Soldaten beim Essen. Und darunter:
Glaubt nicht, dass Heinz weniger produziert. Wir produzieren mehr! Die Soldaten essen zuerst; nur deshalb sind zivile Vorräte begrenzt. Aber wer die Augen nach dem beliebten Namen offenhält...
So oder so ähnlich.
Ich saß vorne. Das Cockpit war kalt und zugig. Wie der Pilot trug ich ein Kehlkopfmikrophon und einen Fliegerhelm mit Kopfhörern und Schutzbrille - durch die ich den Schneesturm während unseres Flugs stärker werden sah. Der Schnee traf in losen Einheiten aufs Glas und rutschte dann schnell in einer wachsenden Masse zur Seite, bevor er in
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