Die geprügelte Generation
Großvater vorbei ins Wohnzimmer. Die Mutter hob Hildegards Röckchen hoch und hielt sie fest. »Das Stöckchen sauste vierzehnmal, für jede Scherbe zweimal, einmal für Papa, einmal für Mama«, heißt es in Ulla Hahns Roman »Das verborgene Wort«.
Wie mag sich das kleine Lottchen im 18. Jahrhundert bloß gefühlt haben, als seine guten Absichten so bitterlich bestraft wurden? Wie die von Ulla Hahn kreierte kleine Hildegard, als sie aus Versehen die Tasse zerbrach? Wie empfanden es Claudia und ihre Schwester, wenn bei ihnen zu Hause »sehr viel im Zusammenhang mit Tischmanieren und mit sogenanntem ›guten Benehmen‹ geschlagen wurde«? Claudia erinnert sich, dass ihre Schwester sich sehr gefreut hatte, als ein neuer Esstisch angeschafft wurde. Der war nämlich breiter als der alte. »Und da hat sie gesagt, nun kann der Papa nicht mehr rüber langen. Nun kann der mir am Tisch keine Ohrfeige mehr geben. Also mein Vater ist nicht extra aufgestanden dafür. Er langte mal so eben über den Tisch.«
Hänschen klein und die weite Welt
Wann immer Sonjas Mutter sie mit dem Rohrstock durchgeprügelt hatte, fühlte sich die Tochter »einfach nur wie ein Stück Dreck«. Die Schläge taten ihr nicht nur höllisch weh, sie fühlte sich nach dem Gang in den Keller, in dem sie ordentlich vertrimmt worden war, vor allem gedemütigt. Als kleines Kind hatte Sonja zu dem Lied ›Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein …‹ deshalb ein sehr zwiespältiges Verhältnis. »Ich hab immer gedacht«, schilderte sie mir, »warum kehrt dieses blöde Kind zurück? Jetzt ist es einmal unterwegs, soll’s doch immer weiter laufen.«
Was mir bei meinen Gesprächen mit Sonja, aber auch mit anderen,als Kind geprügelten und misshandelten heutigen Erwachsenen immer wieder auffiel war, dass sie ihre Wut über das, was ihnen angetan worden war, häufig nicht auf ihre Eltern richteten. Stattdessen hielten sich viele für schlechte Menschen, suchten nach Gründen, warum Vater und Mutter sich ihnen gegenüber so brutal und gewalttätig verhalten haben könnten – und fanden sie meist nur bei sich selbst. Sonja zum Beispiel dachte immer, sie habe die Schläge ja wohl auch verdient, sonst hätten die Eltern ihr doch so etwas nicht angetan.
Später als Jugendliche, als sie nicht mehr so häufig misshandelt wurde – aber wie sie sagt, »im Grunde war ich ja immer noch diesen Erwachsenen und auch meinen Brüdern ausgeliefert« –, hatte sie immer nur das Gefühl, sie sei böse, sei an allem schuld. »Das hat sich festgesetzt.« Deshalb wollte sie auch unbedingt ins Ausland, dachte: »Ich muss weg. Ich muss da hin, wo mich niemand kennt. Wo keiner weiß, wie schlecht ich bin. Da kann ich vielleicht noch mal neu anfangen.«
Ihr Empfinden, nichts zu taugen, einen schlechten Charakter zu haben, böse zu sein, hat als spätere Erwachsene auch ihre Beziehungen zu Männern, aber auch zu anderen Menschen geprägt. Anfangs jedenfalls. Da dachte sie stets, sie dürfe niemanden wirklich nahe an sich herankommen lassen. Denn wenn der merke, wie böse sie tatsächlich sei, dann gehe der sowieso wieder. Sie hat lange Jahre ihres Lebens mit dem Gefühl zugebracht, die ihr von den Eltern verabreichten Schläge wirklich auch verdient zu haben.
Je älter Sonja wurde, desto seltener wurde der Rohrstock vom Wohnzimmerschrank heruntergeholt. »Mit der Pubertät war damit Schluss. Da hörten auch die Schläge von meinen Brüdern auf. Der Rohrstock hörte auf. Die Ohrfeigen gingen weiter. Die letzte hab ich mit einundzwanzig gekriegt. Von meinem Vater. Das war, als wieder einmal Krach war und ich gesagt habe, wir wären eine Scheißfamilie. Daraufhin hat er mich aufgefordert, wiederhol das noch mal! Und das hab ich getan. Da hat er mir eine geknallt. Ich hab mich ins Auto gesetzt und bin weggefahren.«
Die Schläge, die Sonja zu Hause bekam, haben bei ihr nachhaltig gewirkt, auf den ersten Blick nicht sichtbare, dafür aber lang anhaltende Wunden hinterlassen. Wie sie diese Auswirkungen beschreiben soll? Da zögert sie zunächst, denkt nach, spricht eher stockend weiter. »Das Schreckliche war doch, dass ich mich als erwachsene Frau eine Zeit lang sehr für Scheinhinrichtungen interessiert habe. Und mich immer verwundert fragte, woher diese Anziehung wohl kam. Denn Scheinhinrichtungen sind ja eine Foltermethode. Erst sehr viel später habe ich verstanden, dass das genau das war, was mir als kleines Kind passiert ist. Denn wenn man noch nicht
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