Die geprügelte Generation
diejenigen interviewt, die dazu bereit waren. Als Ergebnis meiner Recherche kann ich sagen: Ich bin auf eine geprügelte Generation gestoßen.
Dabei fühlte ich mich ausgesprochen kompetent, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn man als Kind von den Eltern verhauen wird, den Grund für die erhaltenen Schläge längst nicht mehr gegenwärtig hat, sie manchmal gar nicht versteht, danach ins Bett geschickt wird. Die Interviews zeigten mir, dass ich mich in Gesellschaft befinde mit diesem Gefühl des Alleingelassenseins. Und zwar in einer großen Gesellschaft.
Was genau war diesen Kindern damals, in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – nicht etwa in irgendwelchen Heimen, sondern zu Hause von Vater und Mutter – angetan worden? Was hatte die Eltern bewogen, ihre Kinder so lieblos, so gewalttätig, teilweise geradezu brutal zu misshandeln? Was lösten die Schläge bei den geprügelten Kindern aus? Wie alt waren dieseKinder, als sie anfingen, sich dagegen aufzulehnen? Wie haben sie die erlittene Schmach verarbeitet? Wie sind sie selbst als Erwachsene mit ihren Kindern umgegangen? Haben sie jemals mit ihren Eltern darüber gesprochen, ihnen verziehen, sich mit ihnen versöhnt oder mit ihnen gebrochen?
Fragen, die ich in den nachfolgenden Kapiteln aus der subjektiven Sicht der einstigen Kinder zu beantworten versuche. Mit denen ich mich aber auch an Juristen, Historiker und Therapeuten gewandt habe. Ich habe mit einem Erziehungswissenschaftler gesprochen, habe alte Kinderbücher gelesen, in Archiven und Bibliotheken gestöbert. Herausgekommen ist die Geschichte einer unseligen Tradition, aber auch ein Kaleidoskop tiefer Verletzungen. Es sind Porträts von Menschen entstanden, die noch immer – so alt sie inzwischen auch geworden sein mögen – mit den Dämonen kämpfen müssen, die ihnen die Eltern mithilfe von Kochlöffeln und Rohrstöcken eingebläut haben.
1. Kapitel
KOMM DU MIR BLOSS NACH HAUSE …
Bauklötze aus Brikett
Sonja war fünf Jahre alt und spielte mit einer Freundin in der Garage ihrer Eltern. Zu der Zeit wurde noch hauptsächlich mit Kohle geheizt. Und so waren dort Briketts für den Winter gestapelt, zum Entzücken der beiden Mädchen. Die packten sie sich, diese schwarzen, rechteckigen Klötze, ohne Rücksicht auf ihre sauberen Anziehsachen, stapelten sie gekonnt und bauten aus ihnen eine Sitzgarnitur. Mit Tischen und Stühlen, mit allem, was dazu gehört. Stolz betrachteten beide anschließend ihr Werk, kletterten daran rauf und runter, ohne sich groß darum zu scheren, dass sie sich dabei immer mehr mit den Briketts einstaubten und dreckig machten.
»Das war Anfang der 50er Jahre. Meine Mutter hatte keine Waschmaschine und musste für uns drei Kinder zu Hause mit der Hand waschen«, erinnert sich Sonja. Dementsprechend aufgebracht war die Mutter, als sie die verschmierte Kleidung der Tochter sah – und schlug zu. »Das war das erste Mal, dass sie den Rohrstock rausgeholt hat.« Sonja zögert. »Vielleicht war es ja auch vorher schon.« Nur an dieses Mal erinnert sich Sonja noch ganz genau.
Für den Berliner Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz eine in der damaligen Zeit normale und auch gesellschaftlich anerkannte Reaktion. »Es war durchaus klar, dass man das hinnehmen musste, wenn es passierte. Körperliche Strafen, die berühmte Ohrfeige oder auch mal das ›an den Ohren ziehen‹ – solche Sachen waren üblich in den 50er und 60er Jahren und dementsprechend allgemein akzeptiert. In den Medien, überhaupt in der Öffentlichkeit, ja auch in den Gesprächen der Erwachsenen untereinander galten Schläge als erzieherisch wirksames Mittel.«
Sonja bekam das zu spüren. »Über meine Eltern wurde gelegentlichgesagt, sie seien sehr streng. Ich finde, das ist untertrieben, sie waren brutal. Sie hatten ein brutales Erziehungs-Strafsystem. Das war gestaffelt, je nach Vergehen. Und kleinere Vergehen konnten sich addieren. Bis dann der Rohrstock kam.« Sonja hatte häufig den Eindruck, ihre Eltern hätten sich »regelrecht entlastet«, wenn sie die Tochter oder die Söhne verhauten. Danach schien es Vater und Mutter richtig gut zu gehen. Sie wirkten, als hätten sie Luft abgelassen. Dabei behaupteten die Eltern stets, die Kinder müssten nach einer solchen Tracht Prügel erleichtert sein, sich geradezu befreit fühlen, weil sie ihre Schandtat endlich gesühnt hätten. »Tatsache war, die Eltern fühlten sich besser, weil sie ihren Frust
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