Die geprügelte Generation
beschäftigte. Als erste Vorwürfe gegen ihn laut wurden, horchte ich auf. Nahm zur Kenntnis, dass er darauf bestand, er habe als Stadtpfarrer von Schrobenhausen »zu keiner Zeit in irgendeiner Form körperliche Gewalt« gegenüber Kindern ausgeübt. Da habe er »ein reines Herz«. Während sich immer mehr seiner damaligen Opfer meldeten. Von Boxhieben auf die Brust war da die Rede, durch die Kinder gegen die Wand geschleudert worden sein sollten. Von Schlägen mit Stöcken, die zerbrachen und durch Gürtel ersetzt wurden. Die Vorwürfe wurden immer belastender, so dass sich der beschuldigte Bischof endlich entschloss, schon weitaus kleinlauter einzuräumen, er könne »die eine oder andere Watsch’n vor 20 oder 30 Jahren nicht ausschließen«. Dabei fügte er hinzu, eine Ohrfeige als erzieherische Maßnahme sei damals »vollkommen normal« gewesen, »und alle Lehrer und Schüler dieser Generation wissen das auch.« 1
Ich habe nachgerechnet und bin zu dem Ergebnis gekommen: Das stimmt einfach nicht! Die Vorwürfe gegen ihn betrafen nicht etwa die 50er und 60er Jahre, in denen so etwas tatsächlich noch »vollkommen normal« gewesen wäre. Seine Misshandlungen, die nach Aussagen seiner Opfer mit Faust, Stock oder Teppichklopfer durchgeführten Prügel, fanden in den 80er und 90er Jahren statt. Zu einer Zeit, als es längst Kinderläden und alternative Pädagogik gab, sich die geprügelten Kinder gegen ihre Eltern aufgelehnt hattenund diese versuchten, anders mit ihren Sprösslingen umzugehen. Als offiziell schon längst Schläge an Schulen und in Heimen verboten waren. Und es erste heftige Debatten darüber gab, ob man derartig drakonische Strafen nicht auch in den Familien sanktionieren müsse.
Seine Geschichtsklitterung empörte mich. Sollte hier etwas vertuscht werden? Sollte hier eine Entwicklung verharmlost und negiert werden, die mit der 68er Studentenrevolte umschwang und im Jahr 2 000 dann zu dem eindeutigen Verbot führte, Kinder innerhalb der Familien körperlich zu züchtigen?
Erwähnenswert ist in der darauffolgenden Auseinandersetzung um Mixas »Watsch’n« die Position des Theologen und Sozialwissenschaftlers Wolfgang Ockenfels, der mit den Worten zitiert wurde: »Es ist absurd, wie aus ›Backpfeifen‹ Prügelorgien wurden. Dann könnte man ja sämtliche Angehörige der älteren Generation, die ihre Kinder in den 50er, 60er und 70er Jahren hin und wieder mit Ohrfeigen gezüchtigt haben, belangen. Es erscheint mir lächerlich, wie heute naseweise Typen Backpfeifen zu Anschlägen gegen die Menschlichkeit deklarieren.«
Ist es tatsächlich lächerlich, wenn das Prügeln von Kindern zu Anschlägen gegen die Menschlichkeit deklariert wird? Ist es nicht eine geradezu unverschämte Verharmlosung, die brutalen Erziehungsmethoden vieler damaliger Eltern lediglich zu ein paar harmlosen Backpfeifen herunterzuspielen? War die seinerzeit den Kindern gegenüber ausgeübte Gewalt nicht Körperverletzung? Je nach Art der erlittenen Wunden sogar ein Anschlag gegen die Menschlichkeit?
Ich beschloss, hier zu recherchieren. Und zwar nicht in Heimen, darüber ist ja seit Mixas zögerlichem Eingeständnis und dem nicht mehr zu überhörenden Aufschrei von Heimkindern viel, sehr viel berichtet worden. Mich interessierte die Erfahrung, die Kinder zu Hause mit strengen, vor Gewalt nicht zurückschreckenden Eltern gemacht hatten, die zu Kochlöffel und Teppichklopfer griffen, wenn ihnen der Geduldsfaden riss.
Die Antworten, die ich bekam, waren so verblüffend, dass ich mich fragte, wie dieses Thema so lange unter Diskretion und Sprachlosigkeit begraben bleiben konnte.
Zunächst scheint es üblich gewesen zu sein, in den 1950ern und 1960ern, Kinder durch Prügel zur Raison zu bringen. Die einen wurden heftig und mit System geschlagen, andere hatten lediglich ab und zu Ohrfeigen bekommen. Einige waren verschont geblieben, hatten aber mit Gleichaltrigen gespielt, von denen sie wussten, dass die zu Hause Senge bekamen. Eine Tracht Prügel – die kannte fast jeder meiner Altersklasse, den ich hierauf ansprach. Ob aus eigener Erfahrung oder vom Hörensagen, lediglich das unterschied sich.
Ich begann, die ersten dieser nun lange schon erwachsenen Kinder zu interviewen. Zunächst für Rundfunkfeatures bei WDR5 und SWR 2. An Interviewpartnern mangelte es nicht. Ich habe nicht nach besonders krassen Beispielen gesucht, sondern habe die genommen, die sich mir gegenüber als geprügeltes Kind outeten. Habe weiter gesucht,
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