Die Germanin
In einer Höhle fanden sie Unterschlupf. Dort blieben sie, bis die rasch aufeinanderfolgenden Unwetter nachließen und sie sich wieder hinauswagen konnten. Zwei der Jüngeren hatten Fieber und Leibschmerzen, ihretwegen musste häufig gerastet werden und es dauerte Tage, bis sie sich erholten.
Auf einem schmalen Bergpfad zog sich der Trupp weit auseinander. Nelda und Ukro, die an der Spitze ritten, verloren den Anschluss zu den Nachfolgenden. Plötzlich hörten sie weit hinter sich Schreie und den Lärm eines Kampfgetümmels. Sie banden ihre Pferde an Bäume und schlichen zurück. Da fanden sie niemanden mehr vor, doch tief unten, in einem Felsspalt, lagen die Leichen einiger ihrer Gefährten. Die Übrigen waren ebenso wie die Pferde verschwunden, von Wegelagerern fortgetrieben.
Nelda hatte es fertiggebracht, sich trotz all dieser Unbilden nicht zu verraten, und noch immer für einen Mann gehalten zu werden. Sie hatte die Waffen des vom Blitz Getöteten an sich genommen, unterwegs auch ihre Kleidung aus feinem Gewebe und ihre römischen Stiefel gegen einen Bauernkittel, eine Hose, einen Schafspelz und grobe Schuhe eingetauscht. Sie bewegte sich wie ein Mann und sprach mit einer rauen, heiseren Stimme – dies freilich infolge des Fiebers, das auch sie am Ende packte. Noch saß sie auf dem Rücken des Pferdes, doch ihre Stirn glühte, ihr Kopf schien zu bersten. Ihre Hände, die den Zügel hielten, zitterten. Mit eisernem Willen kämpfte sie, weit nach vorn auf den Hals des Tieres gelehnt, gegen die drohenden Schwindelanfälle und Ohnmachten. Ukro, ihr letzter verbliebener Reisegefährte, musste sie schließlich vom Pferd heben, bevor sie hinuntersank und sich verletzte. Da entschloss sie sich, ihm zu gestehen, was ihm unter diesen Umständen ohnehin nicht verborgen bleiben konnte. Sie hatte den ernsten, zuverlässigen jungen Mann schätzen gelernt und vertraute ihm. So sagte sie ihm also, dass sie sich nur als Gerbod ausgegeben habe, um sicherer reisen zu können, und dass sie in Wahrheit eine Frau sei – Thusnelda, die Frau des Heerführers Arminius. Sie wolle zu ihrem Gemahl, um ihn wiederzusehen, um ihm von seinem Kind zu erzählen, vor allem aber, um ihn vor den Mördern, die gegen ihn ausgesandt seien, zu warnen.
Der junge Chatte hockte neben ihr und hörte aufmerksam zu, während sie ihm, in ihren Schafspelz gehüllt und an einen Birkenstamm gelehnt, mit leiser Stimme und fiebrig bebenden Lippen diese unerwartete Mitteilung machte. Doch so wie ihn auch sonst nichts umwarf, war er nur mäßig überrascht und erklärte zu ihrem Erstaunen, wenn sie Thusnelda sei, die Frau des Arminius, dann sei sie ja auch die Tochter des Segestes und der Male und mit ihm verwandt. Und es stellte sich heraus, dass ihre vor langer Zeit verstorbene Tante, Frau Males Schwester, die Großmutter des jungen Mannes gewesen war. Nach dem Tode ihres Hiwo, eines Chattenhäuptlings, war sie mit ihrer Tochter Ramis zu der Cheruskersippe zurückgekehrt, der sie entstammte, hatte jedoch einen Sohn bei den Chatten zurückgelassen. Dieser war der Vater des Ukro. Jetzt begriff Nelda, warum ihr der seltsame Name Ukromar nicht unbekannt erschienen war und sie an irgendetwas erinnert hatte. Sie hatte ihn manchmal als Kind gehört, wenn die Tante abends am Herdfeuer gesessen und von ihrem Leben im fremden Stamm, in der fremden Sippe erzählt hatte. Jener Chattenhäuptling, der also der Großvater ihres jungen Gefährten war, hatte ebenfalls auf diesen Namen gehört.
So musste sie sich, obwohl krank und geschwächt, nicht verlassen fühlen, befand sie sich doch in der Obhut eines Verwandten. Mittlerweile waren sie wieder in eine bewohnte Gegend gekommen, hatten jedoch feststellen müssen, dass sie von ihrem ursprünglichen Ziel, den Gauen der Cherusker zu beiden Seiten des Visurgis’, weit abgekommen waren. Unter dem ständig bewölkten Himmel, in den Wäldern und Wüsteneien der fast unbewohnten Berggegend, waren sie nach Osten gezogen und an einen Fluss gelangt, der – laut Auskunft von Anwohnern, die zum Stamme der Hermunduren gehörten – ein Stück weiter nordwärts in den Albis mündete. In der bescheidenen Hütte eines der Flussfischer kamen sie unter. Ukro versäumte nicht, den Wirtsleuten zu sagen, wer die Kranke in seiner Gesellschaft war, und bald liefen aus der ganzen Umgebung Männer, Frauen und Kinder herbei, um sie zu sehen. Vom Heerführer Arminius hatte schon jeder gehört, viele hatten ihm zugejubelt, als er mit seinem Heer
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