Die Germanin
sie.
»Hör mich doch, sieh mich doch an«, flüsterte sie. »Ich bin es… Nelda. Bin zu dir gekommen, weil ich es ohne dich nicht mehr aushielt. Ich musste kommen, ich musste dich wiedersehen. Wir haben ein Kind, weißt du das, einen Sohn… Er ist schon sechs Jahre alt. Thumelicus heißt er, aber den Namen haben ihm die Römer gegeben. Ich nenne ihn, wenn wir allein sind, Segimer, wie seinen Großvater. Damit bist du doch einverstanden, ja? Er ist sehr groß für sein Alter, gesund und kräftig, er wird leben. Das haben wir uns doch so gewünscht… weißt du noch, wie oft wir darüber gesprochen haben? Wie wir uns danach sehnten, endlich ein Kind zu haben, das leben wird? Ich glaube, er wird dir sehr ähnlich. Ich habe ihm alles von uns erzählt und er spricht viel von dir. Hätte ich ihn doch mitbringen können! Aber es war unmöglich und auch ich muss wieder zurück. Warum haben wir uns verloren? Warum werden wir nie mehr beisammen sein und uns lieben? Sehen wir uns erst im Totenreich wieder? Oder auch dort nicht? Wirst du in Walhall sein und ich… und ich nirgendwo? Werden die Götter so grausam sein und uns in aller Ewigkeit trennen? Ich mag es nicht glauben, irgendeine Hoffnung muss es doch geben…«
Ihre Tränen tropften auf seine Brust und mischten sich mit dem schwarzen, geronnenen Blut auf der Wundbinde.
Zwei Männer traten ins Zelt. Der kleine Boier hielt einen brennenden Kienspan. Nelda blickte auf und erkannte durch den Tränenschleier in dem anderen Tammo.
»Verzeih«, sagte er. »Du hast dich verändert. Deshalb…«
Seine Stimme versagte. Als sie sich etwas gefasst hatten, setzte er sich neben sie. Leise sprachen sie miteinander. Doch sie erfuhr von ihm nicht viel mehr als von dem Semnonen. Er wusste auch nicht, wie es geschehen war. Noch wenige Tage zuvor hatten sich Hunderte, Tausende im Lager getummelt. Arminius hatte zu ihnen gesprochen. Immer neue Heerhaufen waren herangezogen. Dann waren viele – vor zwei Tagen, bei Sonnenaufgang – zu dieser unglückseligen Jagd aufgebrochen. Er, Tammo, war wegen einer Fußverletzung im Lager geblieben. Am Abend hatten sie dann den Heerführer gebracht. Durch Zufall war er von Knechten gefunden worden. Wahrscheinlich hatte er sich über einen Bach gebeugt, um zu trinken. In dem Augenblick hatte ihm der Mörder den Speer in den Rücken gestoßen, mit großer Kraft und aus nächster Nähe. Tammo war fest überzeugt, dass es kein Jagdunfall war, sondern Mord. Besonders seltsam aber war, dass schon am Morgen nach der Untat die meisten Cherusker zum Aufbruch rüsteten und dass am Abend fast alle verschwunden waren. Nicht einmal das Wildbret hatten sie noch im Lager verzehren wollen.
»Es sah wie Flucht aus«, sagte Tammo. »Als fühlten sie sich alle schuldig. Als hätten sie alle in Verdacht geraten können, die Untat begangen zu haben. Zu viele hatten ja gegen ihn gehetzt und heimlich Drohungen ausgestoßen. Vielleicht hatten sie es auch so eilig, weil sie ihre Freude nicht zeigen wollten, ihre Genugtuung. Oder sie ließen nur kaltherzig einen Führer im Stich, der sein Heil verloren hatte. Er wollte König aller Germanen werden und er wäre es nach diesem Kampf, hätte er gesiegt, auch geworden. Aber sein Heil hatte ihn verlassen.«
Nelda wachte die ganze Nacht am Sterbelager ihres Hiwo. Unermüdlich, mal flüsternd, mal die Stimme hebend, redete sie auf ihn ein, sprach über alles, was ihr in den Sinn kam: ihre erste Begegnung, das Wiedersehen mit dem gegenseitigen Versprechen, die Jahre des Wartens und Hoffens, den Sieg ihrer Liebe über Gehorsam und alte, überholte Stammesgesetze. Sie erzählte ihm von ihrem Sohn, sprach von gemeinsam Erlebtem, suchte ihn zu erreichen, indem sie Erinnerungen in ihm wachrief. Sie hatte schon bald keine Hoffnung mehr, ihn ins Leben zurückzuholen, doch sie wollte ihm das alles noch sagen, damit er es, wohin er auch ging, im Gedächtnis behielt. Einige Male schien sie sogar Erfolg zu haben, denn er drehte den Kopf mit den leeren Augen zu ihr und seine Lippen bewegten sich, als wollte er etwas erwidern.
Doch es war Täuschung, er war schon weit fort. Und als der Morgen graute, starb er.
Sie verbrannten den Leichnam nach alter Sitte und gaben ihm mit, was ihm teuer war und was er, ein großer Feldherr und Stammesführer, doch bescheiden und ohne besondere Ansprüche, in jenem anderen Leben, zu dem er aufbrach, benötigen würde: Helm, Schwert, Schild, Lanze und Axt, Gürtel, Halsschmuck, einen Becher. Die
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