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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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und stellte die Trittleiter wieder weg.
    7. Oktober

    Heute war Samstag, da brauchte ich mich nicht mehr krank zu stellen. Alma stand früh auf und sagte, sie hätte was vor, und als Mom mich fragte, wie es mir geht, sagte ich: Viel besser. Dann fragte sie, ob ich etwas mit ihr unternehmen wollte, in den Zoo gehen oder so, weil Dr.   Vishnubaka sagt, es wäre gut, wenn wir mehr im Familienkreis machen. Aber obwohl ich Lust hatte, wusste ich, es gab da etwas, das musste ich einfach tun. Also sagte ich: Vielleicht morgen. Dann ging ich nach oben in ihr Arbeitszimmer, machte den Computer an und druckte Die Geschichte der Liebe aus. Ich steckte sie in einen braunen Umschlag, und vorne drauf schrieb ich FÜR LEOPOLD GURSKY. Ich sagte Mom: Ich gehe etwas spielen, und sie sagte: Wo denn?, und ich sagte: Bei Louis, obwohl er gar nicht mehr mein Freund ist. Mom sagte: Gut, aber ruf mich an. Dann nahm ich 100   Dollar von meinem Lemon-Aid-Geld und steckte sie in die Tasche. Ich versteckte den Umschlag mit der Geschichte der Liebe unter meiner Jacke und ging zur Tür hinaus. Ich wusste nicht, wo die Grand Street ist, aber ich bin ja fast 12, und ich wusste, ich würde sie finden.

 
    A + L
    Der Brief kam ohne Absender mit der Post. Mein Name, Alma Singer, war mit Schreibmaschine vorne draufgeschrieben. Die einzigen Briefe, die ich je bekommen hatte, waren alle von Misha gewesen, aber er hatte nie eine Schreibmaschine benutzt. Ich machte ihn auf. Es waren nur zwei Zeilen. Liebe Alma, stand da. Bitte treffen Sie mich Samstag um 4 Uhr nachmittags auf den Parkbänken vor dem Zooeingang im Central Park. Ich glaube, Sie wissen, wer ich bin. Herzlich, Leopold Gursky.

 
    Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf dieser Parkbank sitze. Inzwischen ist kaum noch Tageslicht, aber solange es hell war, konnte ich die Skulpturen bewundern. Einen Bären, ein Nilpferd, etwas mit gespaltenen Klauen, was ich für eine Ziege hielt. Auf dem Weg kam ich an einem Brunnen vorbei. Das Becken war trocken. Ich sah hinein, ob irgendwelche Pennys auf dem Grund lagen. Aber da war nur Laub. Es liegt jetzt überall, fällt und fällt, bis die Welt wieder zu Erde wird. Manchmal vergesse ich, dass die Welt nicht dem gleichen Zeitplan folgt wie ich. Dass nicht alles stirbt, oder wenn es stirbt, wieder zum Leben zurückkehrt, oft braucht es nur ein bisschen Sonne und die übliche Ermunterung. Manchmal denke ich: Ich bin älter als der Baum dort, älter als die Bank, älter als der Regen. Und doch. Ich bin nicht älter als der Regen. Er ist all die Jahre gefallen, und wenn ich nicht mehr bin, wird er weiter fallen.

 
    Ich las den Brief noch einmal. Ich glaube, Sie wissen, wer ich bin, stand da. Aber ich kannte niemanden namens Leopold Gursky.

 
    Ich habe mich entschlossen, hier sitzen zu bleiben und zu warten. Für mich gibt es sonst nichts mehr zu tun im Leben. Mag sein, dass ich mir den Hintern wund sitze, aber viel schlimmer wird’s schon nicht werden. Wenn ich Durst bekomme, dürfte es wohl kein Verbrechen sein, mich hinzuknien und das Gras abzulecken. Ich stelle mir gern vor, wie meine Füße im Boden Wurzeln schlagen und Moos über meine Hände wächst. Vielleicht ziehe ich mir die Schuhe aus, um den Vorgang zu beschleunigen. Nasse Erde zwischen den Zehen, wie früher, als ich ein Junge war. An meinen Fingern werden Blätter wachsen. Vielleicht klettert ein Kind auf mich. Der kleine Junge, den ich Kieselsteine in den leeren Brunnen werfen sah, der war noch nicht zu alt zum Bäumeklettern. Aber man sah ihm an, dass er altklug war. Wahrscheinlich glaubte er, er sei nicht für diese Welt gemacht. Ich wollte ihm sagen: Wenn nicht du, wer dann?

 
    Vielleicht ist er wirklich von Misha. So was wäre ihm jedenfalls zuzutrauen. Ich würde Samstag hingehen, und dann säße er da auf der Bank. Zwei Monate waren vergangen seit dem Nachmittag in seinem Zimmer, wo sich hinter der Wand seine Eltern angeschrien hatten. Ich würde ihm sagen, wie sehr ich ihn vermisst habe.
    Gursky – das klang russisch.
    Vielleicht war er von Misha.
    Aber wahrscheinlich nicht.

 
    Manchmal dachte ich an nichts, und manchmal dachte ich an mein Leben. Immerhin habe ich mir mein Leben verdient. Was für ein Leben? Ein Leben eben. Ich habe gelebt. Es war nicht einfach. Und doch. Ich fand heraus, wie wenig unerträglich ist.

 
    Wenn er nicht von Misha war, dann womöglich von dem Mann mit der Brille aus dem Stadtarchiv in der 31 Chambers Street, der mich Fräulein

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