Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Meerestiere ausgelöscht wurden. Davor kam das Massenaussterben am Ende der Trias (ebenfalls durch Asteroideneinschlag und vermutlich Vulkanismus), dem bis zu fünfundneunzig Prozent aller Arten zum Opfer fielen, und noch davor das im späten Devon. Das gegenwärtige Massenaussterben ist offenbar das schnellste in der ganzen 4,5 Milliarden Jahre alten Erdgeschichte und beruht, im Gegensatz zu den anderen, nicht auf Naturereignissen, sondern auf menschlicher Ignoranz. Wenn das so weitergeht, wird die Hälfte aller Arten in hundert Jahren vom Erdboden verschwunden sein.
Deshalb machte ich keinen Schmetterling auf Mishas Karte.
8. ZWISCHENEISZEITLICH
Im selben Februar, in dem meine Mutter den Brief mit der Bitte um Übersetzung der Geschichte der Liebe bekam, fielen fast 60 Zentimeter Schnee, und Misha und ich bauten im Park eine Schneehöhle. Wir arbeiteten stundenlang, bis uns die Finger abstarben, aber wir gruben weiter. Als die Höhle fertig war, krochen wir hinein. Blaues Licht drang durch den Eingang. Wir saßen Schulter an Schulter. «Vielleicht ich nehme dich eines Tages mit nach Russland», sagte Misha. «Wir könnten im Ural zelten», sagte ich. «Oder einfach in der kasachischen Steppe.» Beim Sprechen atmeten wir kleine Wolken aus. «Zeige dir Zimmer, wo ich mit meinem Großvater gewohnt habe», sagte Misha, «und wie man auf der Newa Schlittschuh läuft.» – «Ich könnte Russisch lernen.» Misha nickte. «Ich zeige dir. Erstes Wort: Dai .» – «Dai.» – «Zweites Wort: Ruku .» – «Was bedeutet das?» – «Sag es erst.» – «Ruku.» – «Dai ruku.» – « Dai ruku . Was bedeutet das?» Misha nahm meine Hand und hielt sie fest.
9 . WENN SIE WIRKLICH IST
«Was bringt dich auf Idee, dass Alma nach New York gekommen ist?», fragte Misha. Wir hatten die zehnte Runde Zehner raus gespielt, und jetzt lagen wir am Boden seines Zimmers und sahen an die Decke. Ich hatte Sand im Badeanzug und zwischen den Zehen. Mishas Haar war noch nass, und ich roch sein Deo.
«Im vierzehnten Kapitel schreibt Litvinoff von einem Faden, den ein nach Amerika fahrendes Mädchen über den Ozean spannte. Du weißt ja, er war aus Polen, und meine Mom hat gesagt, er sei geflohen, bevor die Deutschen kamen. Die Nazis haben in seinem Dorf so gut wie alle umgebracht. Wenn er also nicht geflohen wäre, hätte es keine Geschichte der Liebe gegeben. Und wenn Alma aus demselben Dorf kam, worauf ich hundert Dollar wetten würde –»
«Du schuldest mir schon hundert.»
«Die Sache ist die: In den Teilen, die ich gelesen habe, gibt es Geschichten über Alma, als sie noch sehr jung war, ungefähr zehn. Wenn sie also wirklich ist, was ich glaube, muss Litvinoff sie als Kind gekannt haben. Woraus zu schließen ist, dass sie wahrscheinlich aus demselben Dorf waren. Und Yad Vashem hat keine Alma Mereminski aus Polen auf der Liste, die im Holocaust gestorben wäre.»
«Wer ist Yad Vashem?»
«Das Holocaust-Museum in Israel.»
«Na gut, aber vielleicht sie ist gar keine Jüdin. Und selbst wenn – selbst wenn sie ist wirklich, und Polin, und Jüdin, UND nach Amerika gefahren –, wie willst du wissen, ob sie nicht in andere Stadt gegangen ist? Vielleicht nach Ann Arbor.» – «Ann Arbor ?» – «Ich habe Cousin dort», sagte Misha. «Aber egal, ich dachte, du suchst Jacob Marcus, nicht diese Alma.»
«Tue ich auch», sagte ich. Ich fühlte seinen Handrücken meinen Oberschenkel streifen. Ich wusste nicht, wie ich sagen sollte, dass ich jetzt, nachdem ich mich eigentlich auf die Suche nach jemandem gemacht hatte, der meine Mutter wieder glücklich machen könnte, auch etwas anderes erfahren wollte. Über die Frau, nach der ich benannt war. Und über mich selbst.
«Vielleicht hat es ja etwas mit Alma zu tun, dass Jacob Marcus das Buch übersetzt haben will», sagte ich, nicht weil ich es glaubte, sondern weil mir nichts Besseres einfiel. «Vielleicht hat er sie gekannt. Vielleicht versucht er sie zu finden.»
Ich war froh, dass Misha nicht fragte, warum Litvinoff, wenn er so in Alma verliebt gewesen war, ihr nicht nach Amerika gefolgt war; warum er sich für Chile entschieden und jemanden namens Rosa geheiratet hatte. Der einzige Grund, den ich mir vorstellen konnte, war, dass ihm keine Wahl geblieben war.
Hinter der Wand schrie Mishas Mutter seinen Vater an. Misha stützte sich auf den Ellbogen und sah zu mir herab. Ich dachte an die Zeit im letzten Sommer, als ich dreizehn gewesen war und wir auf dem Dach gestanden hatten, der Teer
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