Die Geschichte der Liebe (German Edition)
weich unter unseren Füßen, jeder mit der Zunge im Mund des anderen, während er mir eine Lektion im russisch Küssen à la Shklovsky erteilte. Jetzt kannten wir uns schon zwei Jahre, die Seite meiner Wade berührte sein Schienbein, und sein Bauch drückte gegen meine Rippen. Er sagte: «Ich glaube nicht, dass es Ende der Welt wäre, meine Freundin zu sein.» Ich öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus. Sieben Sprachen waren mir in die Wiege gelegt worden; wie schön wäre es gewesen, wenn ich nur eine einzige hätte sprechen können. Aber ich konnte nicht, also beugte er sich herunter und küsste mich.
10. DANN
war seine Zunge in meinem Mund. Ich wusste nicht, ob ich seine mit meiner berühren sollte oder ob ich meine besser an der Seite ließ, damit seine sich ungestört von meiner bewegen konnte. Ehe ich mich entschließen konnte, nahm er seine Zunge wieder heraus und schloss den Mund, und ich ließ meinen aus Versehen offen, was ein Fehler zu sein schien. Ich dachte, das wäre wohl das Ende, aber da machte er den Mund wieder auf, und ich begriff nicht, was er wollte, und so leckte er am Ende meine Lippen. Darauf öffnete ich sie und streckte meine Zunge heraus, aber zu spät, weil er seine schon wieder im Mund hatte. Dann kriegten wir es annähernd hin, den Mund gleichzeitig aufzumachen, als wollten wir beide etwas sagen, und ich legte meine Hand um seinen Hals, wie Eva Marie Saint es in der Zugszene von Der unsichtbare Dritte bei Cary Grant macht. Wir wälzten uns ein wenig herum, und es war, als rubbele sein Unterleib an meinem, aber nur eine Sekunde lang, weil dann meine Schulter aus Versehen gegen sein Akkordeon gequetscht wurde. Rund um meinen Mund war alles voller Speichel, das Atmen schwierig. Draußen vor dem Fenster flog ein Flugzeug in Richtung JFK vorbei. Sein Vater fing an, seine Mutter zu beschimpfen. «Worüber streiten sie?», fragte ich. Misha zog den Kopf zurück. Ein Gedanke durchfuhr sein Gesicht in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich fragte mich, ob sich zwischen uns etwas verändern würde. «Merde» , sagte er. «Was bedeutet das?», fragte ich, und er sagte: «Das ist Französisch.» Er wickelte mir eine Haarsträhne ums Ohr und fing wieder an, mich zu küssen. «Misha?», flüsterte ich. «Schh», sagte er, ließ seine Hand unter mein Hemd gleiten und umfasste meine Taille. «Nicht», sagte ich und setzte mich auf. Und dann sagte ich: «Ich mag jemand anderen.» Kaum hatte ich es ausgesprochen, bereute ich es schon. Als klar war, dass es nichts mehr zu sagen gab, zog ich meine Turnschuhe an, die voller Sand waren. «Wahrscheinlich wundert sich meine Mutter schon, wo ich bleibe», sagte ich, was nicht stimmte, wie wir beide wussten. Als ich aufstand, hörte man Sand rieseln.
11. EINE WOCHE VERGING, UND MISHA UND ICH SPRACHEN NICHT MITEINANDER
In Erinnerung an alte Zeiten las ich wieder einmal Essbare Pflanzen und Blüten in Nordamerika . Ich stieg aufs Dach unseres Hauses, um zu sehen, ob ich irgendwelche Sternbilder erkennen konnte, aber da waren zu viele Lichter, und so ging ich wieder hinunter in den Garten und übte, Dads Zelt im Dunkeln aufzubauen, was ich in drei Minuten und vierundfünfzig Sekunden schaffte, fast eine Minute schneller als mein eigener Rekord. Als ich fertig war, legte ich mich hinein und versuchte, mich an alles zu erinnern, was mit Dad zu tun hatte, an so vieles wie nur möglich.
12. ERINNERUNGEN, DIE MEIN VATER MIR VERMITTELT HAT
– echad
Der Geschmack von rohem Zuckerrohr
– schtajim
Die ungeteerten Straßen in Tel Aviv, als Israel noch ein junges Land war, und dahinter die Felder voller wild wachsender Alpenveilchen
– schalosch
Der Stein, den er einem Jungen, der seinen älteren Bruder schikaniert hatte, an den Kopf warf und der ihm Respekt bei den anderen verschaffte
– arba
Mit seinem Vater im moschaw Hühner kaufen und beobachten, wie die Beine zucken, wenn der Hals schon abgeschnitten ist
– hamesch
Das Rauschen des Kartenspiels, das von seiner Mutter und ihren Freundinnen gemischt wurde, wenn sie samstagabends nach dem Sabbat Canasta spielten
– schesch
Seine Reise zu den Iguaçu-Fällen, die er unter großen Mühen und Entbehrungen allein unternahm
– schewa
Sein erster Eindruck von dem Mädchen, das seine Frau und meine Mutter werden sollte: in gelben Shorts, ein Buch lesend auf der Wiese des Kibbuz Yavne
– schmone
Das Zirpen der Zikaden in der Nacht, aber auch die Stille
– tescha
Der Duft von Jasmin, Hibiskus und
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